Als der Moskauer Juri Dawydow Anfang März das letzte Mal zur Arbeit ins Studio des unabhängigen Fernsehsenders Doschd fährt, weiß er, dass in seinem Leben sehr bald nichts mehr so sein wird wie bisher. Als Chefkameramann und Regisseur für Sonderprojekte hat er den Aufstieg und Fall des wohl ambitioniertesten privaten Medienprojekts der Putin-Ära miterlebt. "Wir haben uns bemüht, die Wahrheit zu sagen, doch weil das dem Kreml nicht passte, sind wir in seinen Augen immer mehr zum Oppositionssender geworden". Dawydow war dabei, als Doschd 2014 seine Kabellizenz verlor und als die Redaktion nach Druck von oben das angestammte Studio räumen und vorübergehend aus der Wohnung der Gründerin Natascha Sindeewa senden musste. Im vergangenen Jahr wurde Doschd dann vom Justizministerium als "ausländischer Agent" gebrandmarkt, was die letzten Werbekunden verschreckte. Dann griff Russland die Ukraine an.

"Wir haben am Anfang einfach weiter die Wahrheit gesagt, doch als der Staat selbst das Wort 'Krieg' in der aktuellen Situation verbieten und unter Strafe stellen wollte, war es zu viel", sagt Dawydow. In der Redaktion kursierten bereits Gerüchte, dass es eine Razzia im Sender geben könnte. "Viele Mitarbeiter sind bereits in der Nacht auf den dritten März, einen Tag vor dem letzten Sendetag, ins Ausland abgehauen." Unter ihnen war auch Juri Dawydow.

Seit nun knapp zwei Monaten lebt Dawydow in Berlin, in einer Wohnung, die ihm Freunde für einige Wochen überlassen haben. Mit zwei Koffern ist er gekommen, in einem die Kleidung, im anderen die Technik für seine Arbeit. Aufatmen kann er dennoch nicht. Das Problem: Sein Touristenvisum erlaubt nur einen Aufenthalt für 90 Tage, die bald enden. Ob er weiter in Deutschland bleiben kann, ist mehr als fraglich. Er könnte versuchen, ein Arbeitsvisum zu bekommen, oder eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Beides ist nicht einfach und erfordert unter anderem, dass er einen festen Wohnsitz nachweisen kann und seinen Lebensunterhalt bestreiten. "Mit einem Touristenvisum bekommt man aber nicht einmal ein Bankkonto. Es ist ein Teufelskreis", sagt Dawydow.

So wie Dawydow geht es derzeit vielen Menschen aus Russland, die den Angriffskrieg ihres Landes auf die Ukraine verurteilen und seit Beginn des Krieges ihre Heimat verlassen haben. Für Russinnen und Russen, die sich politisch engagieren, sich gegen den Krieg aussprechen oder demonstrieren, ist das Leben in Russland derzeit gefährlich. Nach Angaben von OVD-Info, einer Nichtregierungsorganisation, die sich gegen politische Repressionen und für Demonstrationsfreiheit einsetzt, wurden in Russland seit dem Einmarsch in die Ukraine mindestens 15.000 Menschen zumindest vorübergehend festgenommen. Agora, ein Juristenverein, der Angeklagten in politischen Prozessen hilft, zählte mindestens 2.000 Verfahren wegen sogenannter "Diskreditierung russischer Streitkräfte". Unter diesen Tatbestand fällt so gut wie jede öffentliche Äußerung, die Russlands offizieller Lesart des Krieges in der Ukraine zuwiderläuft.

Bei Sergej Medwedew gehen in diesen Tagen viele Anfragen verzweifelter russischer Emigranten ein. Der Politikwissenschaftler stammt aus Russland, lebt schon seit vielen Jahren in Berlin und leitet dort den Verein Dekabristen, der zivilgesellschaftliche Initiativen in Russland unterstützt. "Es sind Dutzende Journalisten und noch deutlich mehr Aktivisten, Blogger, aber auch Mitarbeiter von deutschen Stiftungen oder sogar dem Goethe-Institut, die sich gerade in Deutschland aufhalten und deren kurzfristige Besuchsvisa bald ablaufen", sagt Medwedew. Viele von ihnen verzweifeln an der Bürokratie und dem Einwanderungsrecht. "Deutschland hat keine Lehren aus der Afghanistan-Krise gezogen, als vielen Ortskräften nicht geholfen werden konnte."

Dabei hätte Berlin derzeit die Chance, zu einem Zufluchtsort für unabhängige russische Journalisten zu werden, die weiterhin frei berichten können. "Das sind ausgezeichnete Fachleute, die über eigene Portale und Social Media wie YouTube ihrem russischen Publikum weiterhin die Wahrheit über den Krieg in der Ukraine und Putins Regime erzählen können", sagt Medwedew. Das sei wichtig, um eine Chance auf Demokratie in Russland zu wahren. Solange ihr Status in Deutschland ungeklärt sei, könnten sie jedoch nicht arbeiten. "Deswegen raten wir auch den Russen und Russinnen ab, Asyl zu beantragen, weil sie während des Verfahrens nicht arbeiten können und isoliert sind."