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Hochschulen im Krieg

Seit den 1990er-Jahren hat die Ukraine viele Reformen im Wissenschafts- und Bildungssystem angestoßen. Aktuell geht es darum, Forschung und Lehre unter widrigsten Bedingungen aufrechtzuerhalten. Beim Wiederaufbau wird die Europäische Union gefragt sein. Ein Beitrag von Eduard Klein

Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 befindet sich die Ukraine im Krieg. Die Kampfhandlungen sind inzwischen zwar auf den südlichen und östlichen Teil des Landes konzentriert. Durch russische Raketenangriffe tief in das Landesinnere hinein ist allerdings keine Region der Ukraine wirklich sicher. Mehr als fünf Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind ins Ausland geflohen, etwa sieben Millionen haben in anderen Teilen des Landes als Binnenflüchtlinge Schutz gesucht. Der Krieg beeinträchtigt alle Bereiche der ukrainischen Gesellschaft. Auch die akademische Welt in der Ukraine geriet aus den Fugen: Dutzende Universitäten wurden durch die Angriffe beschädigt oder ganz zerstört, zehntausende weibliche Studierende und Hochschulmitarbeitende flohen innerhalb des Landes oder ins Ausland, während viele ihrer männlichen Kommilitonen und Kollegen an die Front gingen. Welche langfristigen Folgen die Invasion auf das Hochschul- und Wissenschaftssystem hat, ist nicht absehbar. Dieses befand sich seit der Unabhängigkeit 1991 im Wandel, wichtige Reformen geraten nun ins Stocken.

Postsowjetische Herausforderungen

Das ukrainische Hochschulwesen entstand in weiten Teilen im 20. Jahrhundert und gründete deshalb im Wesentlichen auf dem sowjetischen Bildungsmodell: zentralisierte und politisierte Bildung, internationale Abschottung und strikte staatliche Kontrolle, ein stark bürokratisiertes, hierarchisches System sowie die Trennung von Forschung und Lehre. Gleichzeitig waren die (weniger politisierten) technischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen sehr stark. In der Ukraine, einem wichtigen Standort zum Beispiel der sowjetischen Luft- und Raumfahrt, waren diese besonders beliebt und verbreitet.

Erst nach 1991 konnte die Ukraine ihre Bildungspolitik selbstbestimmt gestalten und leitete einen Entsowjetisierungsprozess ein: Die staatliche Kontrolle wurde deutlich reduziert, neue Studiengänge und (private) Universitäten erweiterten das Studienangebot. Durch die Transformation der sozialistischen Plan- in eine kapitalistische Marktwirtschaft war der Bedarf an Juristinnen, Managern und ähnlichen neuen Berufsgruppen sehr groß und die Studierendenzahlen stiegen schnell. Der Fall des „Eisernen Vorhangs“ öffnete das System nach außen und setzte einen Internationalisierungsprozess in Gang. So trat die Ukraine 1993 dem europäischen Trans-European Mobility Programme for University Studies (TEMPUS) bei, das darauf abzielte den ehemaligen Ostblockstaaten die Modernisierung der Hochschulsysteme zu ermöglichen.

Angesichts der schweren Transformations- und Wirtschaftskrise der 1990er-Jahre standen die Reformen allerdings unter schwierigen Vorzeichen. Die Unterfinanzierung sorgte für ubiquitäre Korruption und einen massiven Braindrain, worunter, verstärkt noch durch die veraltete Ausstattung, die Qualität der Hochschulbildung massiv litt. Die Reformversuche der 1990er-Jahre waren nicht umfassend und nachhaltig genug, um das verkrustete Hochschul- und Wissenschaftssystem in der Ukraine grundlegend zu modernisieren.

Erst die wirtschaftliche Konsolidierung nach der Jahrtausendwende vergrößerte den Handlungsspielraum und ermöglichte einen Reformschub: So ersetzte ab 2008 ein zuvor über mehrere Jahre erprobtes externes Zentralabitur die korruptionsanfälligen Aufnahmeprüfungen an den Universitäten. Im Rahmen des Bologna-Prozesses, dem die Ukraine 2005 beitrat, wurden ab 2009 das einheitliche ECTS-Punktesystem und das Bachelor- und Master-System übernommen. Das förderte den internationalen Studierendenaustausch und Deutschland wurde für mehrere Jahre das beliebteste Zielland ukrainischer Studierender. Das sowjetische Bildungsmodell wich allmählich den Standards im Europäischen Hochschulraum, auch wenn nur wenige Institutionen in der Ukraine mit führenden europäischen Einrichtungen mithalten konnten, was Qualität in Forschung und Lehre anging. Daher tauchen in den einschlägigen internationalen Hochschulrankings kaum ukrainische Hochschulen auf.

Integration in den Europäischen Forschungsraum

Infolge der „Euromajdan“-Revolution übernahmen ab 2014 reformbereite Akteurinnen und Akteure aus Politik, Hochschulwesen und Zivilgesellschaft das Ruder im Bildungsbereich und gaben dem Reformprozess einen weiteren Schub: Die nach wie vor stark vom Ministerium abhängigen Hochschulen erhielten deutlich mehr Autonomie (bis dahin hatten Hochschulen zum Beispiel nicht einmal eigene Bankkonten besessen), die Rektorinnen und Rektoren wurden von den Universitäten gewählt und nicht mehr vom Ministerium ernannt und erhielten mehr Handlungsspielraum. Neue Curricula und anreiz- und leistungsbasierte Finanzierungsmechanismen wurden eingeführt und die hohe Lehrbelastung wurde reduziert. Eine strengere Qualitätskontrolle führte dazu, dass zahlreiche „Titelmühlen“, die gegen Geld akademische Grade verliehen, geschlossen wurden.

Außerdem wurde die Trennung zwischen Forschung, die an den Akademien der Wissenschaften angesiedelt war, und Lehre, die an den Hochschulen stattfand, aufgehoben und ein Integrationsprozess, unter anderem durch gemeinsame Master- und Doktorandenprogramme, in Gang gesetzt. 2014 wurde das „TEMPUS“-Programm in das „Erasmus+“-Programm integriert. Durch die Teilnahme der Ukraine am EU-Forschungsrahmenprogramm „Horizon 2020“, in dem die Ukraine seit 2015 assoziiertes Mitglied ist, konnten sich ukrainische Institutionen als gleichberechtigte Partner auf europäische Fördermittel bewerben und an EU-Projekten teilnehmen. Die Integration in den europäischen Hochschulraum ist weit vorangeschritten. Der Europäisierungsprozess leistete einen entscheidenden Beitrag zur Modernisierung des ukrainischen Hochschulsystems.

Zäsur im Bildungs- und Wissenschaftssystem

Der Krieg markiert auch in der Bildungs- und Wissenschaftswelt eine Zäsur: Seit Beginn der Invasion wurden mehr als 1900 Bildungseinrichtungen beschädigt und 216 komplett zerstört. Charkiw, neben Kyjiw das wichtigste akademische Zentrum des Landes, steht seit Kriegsbeginn unter permanentem Beschuss. Im März wurden sämtliche Gebäude der Wassyl-Karasin-Universität, einer der ältesten und renommiertesten Universitäten des Landes, durch Raketen- und Artilleriebeschuss beschädigt. Am 2. Mai trafen Bomben die Nationale Kotlyarevsky Kunsthochschule. Am 6. Juli wurde die Nationale Pädagogische Skoworoda-Universität angegriffen, die in den Bildungs- und Erziehungswissenschaften zu den führenden ukrainischen Hochschulen zählt. Bei dem Beschuss kam eine Person ums Leben. Ein Forschungsreaktor in Charkiw, in dem auch nukleare Brennstoffe gelagert werden, geriet mehrfach unter Beschuss und die Gebäudeinfrastruktur wurde teilweise zerstört – glücklicherweise trat bisher noch keine nukleare Strahlung aus. Insgesamt wurden in der ostukrainischen Stadt bereits 19 Universitäten beschädigt und eine wurde vollständig zerstört.

Hochschullehre unter Kriegsbedingungen

Trotz des Krieges versucht die Regierung, das Hochschulsystem so gut es geht am Laufen zu halten. Sie muss dafür immer wieder improvisieren. Die Bedingungen unterscheiden sich regional stark. Während im Westteil des Landes der Betrieb weitgehend „normal“ fortgeführt werden kann, mussten Einrichtungen aus umkämpften oder besetzten Gebieten kurzfristig in andere Landesteile evakuiert werden. Infrastruktur, etwa Forschungsgeräte, Labore und Bibliotheken, konnte oftmals nicht überführt werden. Die Lehre wurde vielfach auf digitale Formate umgestellt. Die Evakuierung mehrerer Hochschulen aus dem Donbas bereits nach 2014 sowie die Corona-Pandemie erwiesen sich insofern als „hilfreich“, als die Ukraine sowohl mit Online-Lehre als auch mit dem Umzug von Hochschulen schon Erfahrungen gesammelt hatte.

Für die Aufrechterhaltung des Lehr- und Forschungsbetriebs ist die Ukraine angesichts eingebrochener Staatseinnahmen auf externe Finanzierungsquellen angewiesen. Die Weltbank hat im März 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, damit Studierende ihre Stipendien und sonstigen staatlichen Unterstützungen weiter erhalten. Wie sehr sich darum bemüht wird, den Lehrprozess trotz des Krieges fortzuführen, zeigt auch das Beispiel des Soziologieprofessors Fedir Schandor von der Universität Uschhorod. Dieser schloss sich der Territorialverteidigung an und ging an die Front, unterrichtet von dort aber seine Studierenden weiter, selbst wenn im Hintergrund Explosionen zu hören sind. Ein Foto, dass Schador im Schützengraben zeigt, wie er über das Handy Vorlesungen für seine Studierenden hielt (siehe Bild), sowie eine künstlerische Adaption des Bildes gingen viral.

Ende März wurde in 15 Regionen des Landes bereits wieder gelehrt. In fünf Regionen im Süden und Osten ist der Hochschulbetrieb aber nach wie vor nicht möglich. Geflüchtete Studierende aus umkämpften Gebieten können zwar in anderen Universitäten am Lehrbetrieb teilnehmen, ein Studienplatzwechsel im laufenden Semester ist bisher allerdings nicht möglich. Hier braucht die Ukraine eine Strategie, um Studierende, die so schnell nicht an ihre Hochschule zurückkehren können, besser zu integrieren.

Besonders kritisch ist die Situation in den von Russland (neu) besetzten Gebieten: Russland will diese in einen „gemeinsamen und einheitlichen Geschichts- und Kulturraum“ eingliedern. Das bedeutet eine Umstellung auf russische Lehrpläne und Standards, inklusive der Einführung des Russischen als offizielle Unterrichtssprache. Das russische Bildungsministerium hat bereits Geschichtsbücher an die Universitäten der Regionen Luhansk und Donezk verschickt und „Auffrischungskurse“ für Geschichtsdozenten organisiert. Freie Forschung und Lehre sind nicht mehr möglich, geschweige denn Kritik am Vorgehen der russischen Besatzungsbehörden. Das zeigt das Schicksal der Leiterin der Bildungsverwaltung in der besetzten Stadt Melitopol, Iryna Schtscherbak, die sich den Besatzern widersetzte und daraufhin verschleppt wurde.

Europäische Zukunft

Angesichts des russischen Angriffskrieges erwies sich der zuvor vorangetriebene Europäisierungskurs als Glücksfall, da über zahlreiche persönliche Kontakte viele europäische Partnerinstitutionen schnell und unbürokratisch ukrainische Studierende und Forschende aufnehmen und unterstützen konnten. Im Rahmen von „Horizon Europe“ und des Euratom Forschungs- und Trainingsprogramms wird der ukrainische Forschungssektor von der EU-Kommission finanziell unterstützt. In Deutschland legten der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), aber auch große private Förderer wie die VolkswagenStiftung oder die Alexander von Humboldt-Stiftung spezielle Programme zur Unterstützung ukrainischer Studierender und Forschender auf. Laut der Initiative #ScienceforUkraine, die einen guten, wenn auch nicht vollständigen Überblick über Unterstützungsprogramme für ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bietet, kamen die meisten Angebote – 410 an der Zahl, was 15 Prozent entspricht – aus Deutschland, was die guten deutsch-ukrainischen Beziehungen unterstreicht. DAAD und Hochschulrektorenkonferenz rechnen mit bis zu 100 000 ukrainischen Studierenden und Forschenden in Deutschland.

Ein Grossteil der Geflüchteten will zurückkehren

Auch wenn der Großteil der Geflüchteten mittelfristig wieder in die Ukraine zurückkehren will, ist in der Ukraine die Sorge groß, dass viele Akademikerinnen und Akademiker angesichts der unklaren Perspektiven so schnell nicht zurückkehren werden. Laut Stefan Henkel, der an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder die Ukrainehilfe koordiniert, drohe ein neuer Braindrain. Um diesen zu verhindern, hat die Kyiv School of Economics das Projekt „Ukrainian Global University“ ins Leben gerufen: Ein internationales Netzwerk führender Universitäten nimmt geflüchtete Studierende und Forschende auf, unter der Maßgabe, dass diese nach Kriegsende die erworbenen Kenntnisse für den Wiederaufbau der Ukraine einsetzen. Beim Wiederaufbau wird auch die Europäische Union gefragt sein, die der Ukraine am 23. Juni den EU-Kandidatenstatus verliehen hat. Insofern sollte gerade ihr an einer friedlichen und prosperierenden Ukraine mit einer leistungsfähigen und modernen Hochschul- und Forschungslandschaft nach europäischen Standards gelegen sein. Der Krieg mit seinen Folgen macht es noch einmal dringlicher, die notwendigen Reformen anzupacken, um das ukrainische Hochschulsystem zu modernisieren und vollständig in den europäischen Hochschulraum zu integrieren. //

Dr. Eduard Klein

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und Redakteur der Ukraine-Analysen. In seiner Promotion hat er sich mit dem ukrainischen und dem russischen Hochschulsektor beschäftigt.

Foto: privat

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