Jugendliche mit deutschen und französischen Fahnen bei einem Staatsbesuch.
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60 Jahre Élysée-Vertrag
Frankreichs und Deutschlands Wissenschaft kooperieren

Vor 60 Jahren wurde der deutsch-französische Freundschaftsvertrag unterzeichnet. Welche Herausforderungen stellen sich den Nationen heute?

Von Christian Thimme 22.01.2023

Am 22. Januar jährt sich der 60. Geburtstag des deutsch-französischen Vertrages, nach dem Ort der Unterzeichnung oftmals Élysée-Vertrag genannt. Er ist Ausgangspunkt für die Normalisierung der französisch-deutschen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg und Grundstein für die intensive und freundschaftliche Zusammenarbeit beider Länder, auch an Hochschulen und in der Wissenschaft. 60 Jahre nach Vertragsschluss wäre ein Ausruhen auf den bisherigen Erfolgen jedoch die falsche Strategie: Die bewährte Zusammenarbeit ist nach der "Zeitenwende", die der russische Angriff auf die Ukraine bedeutet, und mitten in der neuen multipolaren Weltordnung so nötig und gefragt wie nie.

Mit keinem Land unterhält Deutschland mehr Hochschulkooperationen als mit Frankreich: Mit über 2.625 Partnerschaften liegt unser westlicher Nachbar weit vor Spanien und den USA, die an zweiter und dritter Stelle folgen. Ein beachtlicher Erfolg, und dies trotz der kontinuierlich abnehmenden gegenseitigen Sprachkenntnisse der Menschen auf beiden Seiten des Rheins. Auch die großen Unterschiede in den Wissenschaftssystemen scheinen kein Hindernis für die intensive Zusammenarbeit zu sein – obwohl diese nicht unterschiedlicher sein könnten.

Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den Hochschulstandorten Deutschland und Frankreich

Im Gegensatz zu Deutschland ist Frankreichs Bildungs- und Wissenschaftssystem durch den politischen Zentralismus geprägt. Gleichzeitig gibt es einen starken Unterschied zwischen den Universitäten einerseits, die kaum Zulassungsbeschränkungen haben und eher einen egalitären Anspruch vertreten, und den hochselektiven teils privaten, teils staatlichen Hochschulen (grandes écoles) andererseits. Zumal die grandes écoles anders als die Universitäten oftmals hohe Studiengebühren erheben. Um einen der begehrten Plätze an diesen Elitehochschulen zu ergattern, müssen Studierende meist für zwei Jahre sogenannte Vorbereitungsklassen absolvieren, die ein hohes Maß an Lernleistung und Disziplin erfordern. Am Ende wird nochmals ausgesiebt und nur ein Bruchteil wird nach der finalen Prüfung (concours) zugelassen. Die Absolventinnen und Absolventen dieser Elitehochschulen haben dann zumeist die besten Berufsaussichten: Die politikwissenschaftlich orientierte Hochschule "Sciences Po", die gerade ihren 150. Geburtstag feierte, zählt die letzten fünf Staatspräsidenten, etwa zwei Drittel der Ministerpräsidenten sowie die große Mehrheit der Minister und Botschafter der Fünften Republik zu ihren Alumni. Für Spitzenpositionen in der Wirtschaft sind gute Abschlüsse von einer der renommierten Wirtschafts- oder Ingenieurhochschulen stillschweigende Voraussetzung.

"Beide Länder verfolgen ähnliche Strategien, um die Attraktivität des Hochschulstandorts auf dem internationalen Bildungsmarkt zu steigern."

Ähnlichkeiten mit Deutschland gibt es hinsichtlich der weitgehenden Gebührenfreiheit des universitären Studiums, der Zahl der Studierenden aus dem In- und Ausland und der Qualität der Ausbildung. Zudem verfolgen beide Länder ähnliche Strategien, um die Attraktivität des Hochschulstandorts auf dem internationalen Bildungsmarkt zu steigern. Beispiele dafür sind das verstärkte internationale Hochschulmarketing, die Verbesserung der Willkommensstrukturen sowie die Exzellenzstrategien. In Frankreich ist in den letzten zehn Jahren ein starker Trend zur Konzentration in der Hochschullandschaft zu beobachten. Über die Exzellenzinitiative wird der Zusammenschluss regionaler Universitäten, Hochschulen und Institute zu Groß-Universitäten forciert. Chancen auf die zusätzlichen Fördergelder, die mit dem begehrten Label verbunden sind, haben nur Hochschulverbünde, die es schaffen, zum Teil recht unterschiedliche Institutionen unter einem Dach zu vereinen. So soll die internationale Sichtbarkeit erhöht werden und die Groß-Universitäten sollen bei Rankings besser abschneiden. Es funktioniert: Immerhin drei Universitäten finden sich seitdem unter den 50 weltweit besten des Shanghai-Rankings – aus Deutschland liegt die TU München bestplatziert auf Rang 56.

Wissenschaftliche Kooperationen seit dem Élysée-Vertrag

Auch die wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich ist von herausragender Intensität und Qualität. Für die größte französische Forschungsorganisation CNRS (Centre National de la Recherche Scientifique) ist Deutschland einer der wichtigsten Partner: In vielen internationalen Forschungsprojekten und -netzwerken sind Max-Planck- und Leibniz-Institute privilegierte Partner des CNRS. Zwischen 2019 und 2021 gab es etwa 42.700 Kopublikationen zwischen Deutschland und Frankreich, davon mehr als 17.600 mit dem CNRS.

 

Inzwischen gibt es eine große Zahl bilateraler Organisationen wie die Deutsch-Französische Hochschule mit ihren über 180 Doppelabschluss-Studiengängen, das vom DAAD geförderte interdisziplinäre Deutschlandzentrum CIERA, das Deutsche Historische Institut oder auch das Deutsch-Französische Jugendwerk, die vielfältige Förderangebote für Studierende und Nachwuchswissenschaftler bieten. Auch die Bilanz beim akademischen Austausch zwischen den beiden Ländern bewegt sich auf hohem und zugleich relativ ausgeglichenem Niveau, was das gegenseitige Interesse eindrucksvoll belegt. Vor Corona studierten jährlich zwischen 8.000 und 9.000 Studierende und Nachwuchswissenschaftler im jeweils anderen Nachbarland. Auch bei den neugegründeten europäischen Hochschulnetzwerken sind Frankreich und Deutschland ganz vorn mit dabei: In den 44 EU-Großprojekten, die gemeinsame Strukturen in Forschung und Lehre schaffen wollen, sind deutsche und französische Hochschulen gemeinsam in 28 Verbünden vertreten.

Kein Ausruhen auf alten Erfolgen: deutsch-französische Zukunftsszenarien

Doch auch 60 Jahre nach den historischen Unterschriften von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer unter dem deutsch-französischen Vertrag gilt: Beständig positive Bilanzen sind verführerisch. Sie laden dazu ein, sich zurückzulehnen und sich auf den Erfolgen auszuruhen, statt energisch Herausforderungen und Probleme anzugehen. Europa steht derzeit vor enormen Herausforderungen, zum Ausruhen gibt es also keinen Anlass. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, die sich abzeichnende Blockbildung zwischen den USA und China, die Infragestellung des westlich-liberalen Demokratiemodells durch populistische oder autokratische Gegenmodelle, auch in einigen Ländern der EU, weisen dem deutsch-französischem Tandem erneut eine besondere Aufgabe in Europa und der Welt zu. Die Globalisierung hat eine Grenze erreicht, die auch vor der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit nicht halt machen wird. Länder wie China und Russland vertreten grundlegend andere Werte als die westlichen Demokratien und ordnen wissenschaftlichen Austausch den nationalen Interessen unter. Im Fall von Russland wurden auch im Wissenschaftsbereich Kooperationen nach Kriegsbeginn auf Eis gelegt oder beendet, mit Blick auf China werden in Zukunft nationale Sicherheitsinteressen an Bedeutung gewinnen und Kooperationsmodelle grundlegend verändern.

"Länder wie China und Russland vertreten grundlegend andere Werte als die westlichen Demokratien."

In diesem Zusammenhang erhält die Wissenschaftskooperation mit den Ländern, die eine gemeinsame Wertebasis teilen, eine ganz neue Bedeutung, da in der Kooperation mit diesen Ländern weder Forschungsspionage noch Missbrauch von gemeinsamen Forschungsergebnissen etwa im militärischen Bereich zu befürchten sind. Dies betrifft alle Bereiche der strategischen Entwicklung, sei es Künstliche Intelligenz, erneuerbare Energien, Cybersicherheit, Biotechnologie oder Weltraumforschung. Hier sollten und müssen Frankreich und Deutschland vorangehen. Es bedarf mutiger Initiativen und großer Forschungsprogramme, für die die beiden Länder, auch im Verbund mit der EU, die entsprechenden Mittel bereitstellen sollten. Erste Programme wie die aktuelle Ausschreibung des Bundesforschungsministeriums zu deutsch-französischen Projekten zu Künstlicher Intelligenz sind ein Anfang. Wenn die Politik ihre eigenen Analysen ernst nimmt, sollte sie künftig mit Investitionen im Milliardenbereich rechnen.