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„Ich will nicht auch noch meine Zukunft verlieren“

Fotos: Privat

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Wenn Emiliia Mitskevych aus dem Fenster ihres Zimmers blickt, hört sie nichts, außer den zwitschernden Vögeln im Garten. Alles ist ruhig und friedlich. Doch in ihrem Inneren sieht es ganz anders aus. „Diese Ruhe macht alles nur noch schlimmer. Manchmal würde ich am liebsten einfach laut losschreien“, erzählt die 24-Jährige. Seit zwei Wochen lebt sie gemeinsam mit ihrer Mutter und Schwester im mittelfränkischen Schwabach. Dort wurde sie von einer Gastfamilie aufgenommen, nachdem ihnen die Flucht von Kyjiv* nach Deutschland gelang. „In unserem Viertel waren Explosionen und Schüsse zu hören, also sind wir einfach nach Hause gerannt, haben unsere Pässe mitgenommen und sind gegangen“, erinnert sich Emiliia zurück. Ihre Katze Freya musste sie zurücklassen – an Unterlagen wie Zeugnisse und Studiennachweise dachte sie in der Todesangst nicht. 

Viele Studierende, die wegen des Kriegs aus der Ukraine fliehen mussten, wissen nicht, wie sie ihr Studium fortführen können

Denn eigentlich studiert Emiliia Operngesang im achten Semester an der Nationalen Universität für Kultur und Kunst in Kyjiv. Ihr Studium würde sie gerne in Deutschland fortsetzen, um danach als professionelle Sängerin zu arbeiten. „Ich habe durch den Krieg schon so viel verloren. Ich will nicht auch noch meine Zukunft verlieren“, sagt sie. Doch fehlende Informationen, Sprachbarrieren und finanzielle Unklarheiten machen die Suche nach einem neuen Studienplatz zu einer großen Herausforderung. „Ich habe eine ganze Reihe an Musikhochschulen in Deutschland angeschrieben und gefragt, ob ich mein Studium bei ihnen fortsetzen kann, auch ohne Nachweise. Aber die meisten haben sich gar nicht erst zurückgemeldet“, berichtet sie.

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Emiliia, 24, studiert eigentlich im achten Semester Operngesag an der Nationalen Universität für Kultur und Kunst in Kyjiv. In Deutschland würde sie ihr Studium gerne fortsetzen, aber das gestaltet sich schwierig.

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Emiliia vor der Flucht in einem ukrainischen Luftschutzbunker.

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Ihre Katze Freya musste Emiliia bei der Flucht aus der Ukraine zurücklassen – an ihre Studienunterlagen dachte sie in der Todesangst nicht.

Foto: Privat

So wie Emiliia geht es gerade vielen Studierenden, die wegen des Kriegs aus der Ukraine fliehen mussten und nicht wissen, ob und wie sie ihr Studium fortführen können. Wie hoch der Studierendenanteil der inzwischen rund 283 000 nach Deutschland geflüchteten Menschen ist, ist noch unklar. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) rechnet jedoch insgesamt mit bis zu 100 000 Studierenden und Forschenden, die dieses und eventuell auch noch nächstes Jahr in Deutschland ankommen könnten. Um den Studierenden eine Orientierung zu bieten, hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung bereits vor drei Wochen beschlossen, eine zentrale Kontaktstelle zu errichten. Umgesetzt werden soll das Ganze vom DAAD. Bisher ist auf der Website des DAAD jedoch lediglich eine Auflistung von Links in deutscher Sprache zu finden, die auf verschiedene Hilfsangebote verweisen. Diese Übersicht sei kaum hilfreich, kritisiert der Freie Zusammenschluss von Student:innenschaften (fzs) e.V., ein überparteilicher Dachverband von Studierendenvertretungen in Deutschland. Vielmehr brauche es eine zentrale Anlaufstelle wie eine Telefon-Hotline für ukrainische Studierende oder eine extra Website, auf der alle Informationen gebündelt und in verschiedenen Sprachen zu finden seien.

„Ich habe das Gefühl, dass sich das System hier sehr unterscheidet von dem in der Ukraine“

Deshalb arbeitet der fzs gerade an einer eigenen Plattform. Aber auch die Anlaufstelle des DAAD wird derzeit noch überarbeitet und soll innerhalb der nächsten zwei Wochen in eine neue Websitenstruktur überführt werden, wie ein Sprecher des DAAD auf unsere Nachfrage mitteilte. Ein weiterer Kritikpunkt des Studierendenverbands ist, dass sich die meisten bestehenden Hilfsangebote je nach Hochschulstandort sehr stark unterscheiden. „Während einige Hochschulen sehr hilfreiche Informationsseiten aufgebaut haben und Angebote wie Sprachkurse für die ankommenden Studierenden organisieren, passiert an anderen Hochschulen außer Solidaritätsbekundungen bisher gar nichts“, so eine Sprecherin des fzs.

Auch Sofiia Petrus, die in Lviv internationale Wirtschaft studiert hat, würde ihr Studium gerne in Deutschland fortführen. Das größte Problem sei für sie jedoch, herauszufinden, wie das Hochschulsystem in Deutschland überhaupt funktioniere, berichtet die 18-Jährige, die jetzt in Filderstadt bei Stuttgart lebt. „Ich habe das Gefühl, dass sich das System hier sehr unterscheidet von dem in der Ukraine. Ich werde auf jeden Fall etwas Zeit und die Hilfe von einheimischen Studierenden brauchen. Auch um mich über die Verfahren für Ausländer zu informieren.“ Da Sofiia einen ukrainischen Pass besitzt, darf sie mit einer Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz bis zu drei Jahre lang in Deutschland bleiben und auch studieren.

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Sofiia, 18, hat in Lviv internationale Wirtschaft studiert. Jetzt in Deutschland weiterzustudieren ist für sie gerade vor allem deshalb schwierig, weil sie auf eigene Faust herausfinden muss,  wie das Hochschulsystem hier funktioniert.

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Doch diese Perspektive haben nicht alle geflohenen Studierenden aus der Ukraine. Bis vor kurzem waren dem Deutschen Studentenwerk zufolge noch etwa 75 000 internationale Studierende an ukrainischen Hochschulen eingeschrieben. Die Hauptherkunftsländer waren laut Unesco-Angaben Indien, Marokko, Aserbaidschan, Turkmenistan, Ägypten und Nigeria. Der DAAD vermutet, dass 1000 bis 3000 dieser Studierenden nach Deutschland kommen könnten. Bleiben dürfen sie jedoch nur bis zum 23. Mai. Bis dahin gilt die vom Bundesinnenministerium erlassene Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung, die es allen ukrainischen Kriegsflüchtlingen erlaubt, ohne Aufenthaltstitel nach Deutschland einzureisen. Geflüchtete ohne ukrainische Staatsangehörigkeit müssen danach in ihre Heimatländer zurückkehren. 

„Ich habe in der Ukraine alles zurückgelassen. Ich weiß nicht, was jetzt aus meiner Zukunft wird“

Einer dieser Studierenden ist Jeremie Musola. Der 22-Jährige kommt aus dem Osten der Demokratischen Republik Kongo. Bevor der Angriffskrieg in der Ukraine begann, studierte er in Kyjiv Medizin. Eigentlich wollte er vier Jahre lang dort bleiben. Jetzt lebt er gemeinsam mit anderen internationalen Studierenden, die ebenfalls aus der Ukraine geflohen sind, in Räumlichkeiten der Evangelischen Französisch-reformierten Gemeinde in Frankfurt am Main. „Ich bin in die Ukraine gegangen, weil ich das Beste für meine Zukunft wollte. Im Osten meines Landes herrscht Krieg. Ich weiß nicht, ob ich mein Studium dort fortsetzen kann, ich will nicht dorthin zurück“, sagt er. Die Flucht aus Kyjiv nach Deutschland hat Jeremie viel Kraft gekostet. Sowohl auf der polnischen, als auch auf der ukrainischen Grenzseite sei er rassistisch angegriffen worden. Zwei Tage lang habe er an der Grenze ausgeharrt, doch die Beamten hätten ihn nicht passieren lassen. Schließlich schaffte er es doch noch von Lviv aus mit dem Zug zu entkommen. Doch auch wenn er jetzt in Sicherheit ist, kann er sich kaum erholen. „Ich habe in der Ukraine alles zurückgelassen. Ich weiß nicht, was jetzt aus meiner Zukunft wird. Manchmal würde ich am liebsten einfach nur weinen“, erzählt Jeremie. Und schiebt gleich hinterher: „Aber das mache ich natürlich nicht. Männer dürfen ja nicht weinen.“ Er lächelt, während er spricht, doch sein Tonfall klingt bitter.

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Jeremie, 22, hat zwar in Kyjiv Medizin studiert – weil er als internationaler Student  keine ukrainische Staatsangehörigkeit hat, muss er aber vermutlich schon nach dem 23. Mai zurück in sein Heimatland.

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„Ich bin in die Ukraine gegangen, weil ich das Beste für meine Zukunft wollte. Im Osten meines Landes herrscht Krieg“, sagt Jeremie, der in der Demokratischen Republik Kongo aufgewachsen ist.

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Jeremy – hier mit seinem Mitbewohner – ist in Räumlichkeiten der Evangelischen Französisch-reformierten Gemeinde in Frankfurt am Main untergekommen.

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Wenn er nicht gerade auf der Suche nach neuen Informationen bezüglich einer möglichen Weiterführung seines Studiums ist, verbringt Jeremie Zeit mit seinem Zimmernachbarn. Zusammen erkunden sie dann die Stadt, kochen etwas oder hören einfach nur Musik. „Irgendwie muss man versuchen, sich abzulenken“, sagt der 22-Jährige. Dass internationalen Studierenden nicht die gleichen Rechte wie ukrainischen Studierenden zustehen, sieht der Generalsekretär des Deutschen Studentenwerks, Matthias Anbuhl, sehr kritisch. „Manche waren bei der Flucht Rassismus ausgesetzt und bekommen aus ihrem Herkunftsland keine Unterstützung. Ich sehe es als humanitäre Aufgabe an, ihnen eine Perspektive zu geben, so dass sie ihr Studium in Deutschland oder in der EU abschließen können.“ 

Wenn bereits ein Studienplatz in Deutschland gefunden worden sei und die Sicherung des Lebensunterhalts nachgewiesen werden könne, sei eine Aufnahme oder Fortführung des Studiums prinzipiell auch für Studierende aus Drittstaaten möglich, teilte ein Sprecher des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) auf Anfrage von jetzt mit.

Verschiedene Studierendenverbände kritisieren jedoch, dass der Zeitraum bis zum 23. Mai viel zu kurz bemessen sei, um diese Bedingungen zu erfüllen. Eine mögliche Verlängerung über den 23. Mai hinaus soll laut BMBF noch geprüft werden.

Eine weitere Schwierigkeit ist für viele die Studienfinanzierung. Vor allem die Unterbringung sei ein Problem, erzählt Emiliia: „Ich kann es mir schlicht nicht leisten, ein Zimmer oder eine Wohnung zu mieten.“ Sie erhält zwar Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, doch einen Anspruch auf Bafög hat sie mit ihrem Aufenthaltstitel nicht. Eine Förderungsberechtigung setze „grundsätzlich eine gewisse Bleibeperspektive“ voraus, so ein Sprecher des BMBF. Dies sei für den Großteil der geflohenen Studierenden nicht der Fall. Außerdem sei eine finanzielle Absicherung bereits durch Bezüge nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gegeben. Der Regelsatz für einen alleinstehenden Erwachsenen beträgt derzeit 367 Euro im Monat. Das sind 82 Euro weniger als der aktuelle Hartz-IV-Satz. Zwar können zum Regelsatz noch Zuschüsse wie Wohn- und Heizkosten hinzukommen, jedoch bislang nur für 18 Monate. 

Dafür, dass geflüchtete Studierende aus der Ukraine keinen Anspruch auf Bafög haben, hat Matthias Anbuhl kein Verständnis. „Mit dem BAföG ist das staatliche Rückgrat für die Studienfinanzierung vorhanden, ein seit 50 Jahres bewährtes System, das entsprechend auf diese Herausforderung angepasst werden könnte.“ Seiner Ansicht nach müsse das Gesetz daher schnellstmöglich nachgebessert werden. „Nur so kann das Versprechen der Bundesregierung, ukrainische Flüchtlinge bekämen Zugang zu Sozialleistungen, auch glaubhaft umgesetzt werden“, sagt er. 

Neben der Finanzierung sei für viele Studierende zudem der Spracherwerb eine große Hürde

Neben der Finanzierung sei für viele Studierende zudem der Spracherwerb eine große Hürde, so Johannes Glembek vom Bundesverband ausländischer Studierender. Zwar würden an einigen Hochschulen bereits englischsprachige Master angeboten, doch der Großteil der Studiengänge finde in deutscher Unterrichtssprache statt. Daher müssten unbedingt Sprach- und Vorbereitungskurse an den Hochschulen eingerichtet werden. „Weiterhin muss es Studierenden aus der Ukraine ermöglicht werden, zu Beginn gegebenenfalls nur einzelne Veranstaltungen zu besuchen, um sich in das Studium integrieren zu können.“

Emiliia versucht derweil weiter, so schnell wie möglich einen Studienplatz zu finden. Auch wenn sie froh ist, jetzt in Schwabach und in Sicherheit zu sein, fällt es ihr schwer, optimistisch zu bleiben. „Manchmal möchte ich aufgeben. Manchmal wünschte ich, dass jemand kommen und meine Probleme lösen würde, einfach weil ich ein guter Mensch in Schwierigkeiten bin. Aber ich weiß, dass niemand kommen wird.“ Das Einzige, was gerade dabei helfe, mit der Situation umzugehen, sei, ihre Gefühle zu verdrängen. „Vielleicht nicht die beste Strategie“, gibt sie zu. Doch nur so könne sie verhindern, komplett zusammenzubrechen.

*Wir benutzen in diesem Text die ukrainische Schreibweise. Das in Deutschland verbreite „Kiew“ ist die russische Schreibweise und gilt vielen Ukrainer:innen als Affront, Anm. d. Redaktion

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