Eine russische Demonstrantin vor Sicherheitskräften in Moskau
Eine russische Demonstrantin vor Sicherheitskräften in Moskau
picture alliance / AA | Sefa Karacan

Russland hat die Ukraine angegriffen, seitdem herrscht Krieg. Auf der ganzen Welt gehen Menschen gegen den Krieg auf die Straße – auch in Russland.

Wie stark der Rückhalt der russischen Bevölkerung für die Invasions-Entscheidung von Präsident Putin tatsächlich ist, ist aber unklar.

Wir haben mit einem Journalisten, einem Forscher, einem Ingenieur und einem Studenten aus Russland über die Atmosphäre in ihrem Land und ihre Erlebnisse gesprochen. Herausgekommen ist ein sicherlich nicht repräsentatives Bild, aber ein spannender Einblick in die russische Seele.

Russland hat die Ukraine angegriffen, seitdem herrscht Krieg. Währenddessen häufen sich auf der ganzen Welt die Proteste auf den Straßen mit Menschen, die gegen den Krieg demonstrieren – auch in Russland. Doch wie groß dort die Kritik an Putins Invasion in der Gesamtbevölkerung wirklich ist, lässt sich nicht verlässlich sagen.

Wir haben versucht, mit Russen vor Ort in Kontakt zu kommen und haben mit einem Journalisten, einem Forscher, einem Ingenieur und einem Studenten aus verschiedenen Städten des riesigen Landes sprechen können. Sie haben uns gesagt, wie sie den Ukraine-Krieg erleben und wie die Atmosphäre in ihrem Land ist.

Michail ist ein Journalist aus Chabarowsk und geschockt über den Ukraine-Krieg

Michail* (50) ist ein Journalist aus Chabarowsk, eine Stadt in Russland nahe der chinesischen Grenze am Fluss Amur. „In meinem Umfeld sind alle verwirrt, frustriert. Keiner hat geglaubt, dass der Krieg jemals passieren könnte“ erzählt Michail. „Die ersten Tage bin ich immer aufgewacht und habe gehofft, dass alles ein böser Albtraum war.“

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Die Atmosphäre der Einwohner beschreibt er als nervös. „Man merkt, dass alles teurer wird und befürchtet, dass die Lebensbedingungen ab jetzt nur noch schlechter werden.“ Zudem gibt es Gerüchte, dass Männer im geeigneten Alter bald in die russische Armee zum Kämpfen eingezogen werden – „Da hat man auch Angst um sein Leben“.

Michail schaut ARD-Nachrichten via YouTube, um sich über den Krieg in der Ukraine zu informieren, aber glaubt, dass das nur wenige andere Russen machen. „Das Staats-Fernsehen zeigt die Situation in der Ukraine nicht als Krieg. Und die, die es zeigen, werden jetzt geschlossen.“ Allerdings sagt er, dass Russen, die unabhängige Nachrichten lesen möchten, es auch tun könnten. „Man kann über Telegram Nachrichten von Ukrainern und ukrainischen Nachrichtenagenturen lesen oder sich aber über Kanäle der wenigen Russen informieren, die sich trauen, die Wahrheit zu verbreiten.“

Er selbst habe große Angst seine Meinung über den Krieg auszusprechen. Wenn er etwas veröffentlichen würde, was der offiziellen Stellung widerspricht, würde er direkt seinen Job verlieren. „Nicht weil mein Chef das unbedingt will, sondern weil er dann einfach ein paar Anrufe bekommt und sein Business ruiniert wird.“

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Michails alter Klassen-Kamerad und enger Freund aus der DDR lebt in der Ukraine. Er erzählt ihm von Tagen und Nächten im Keller, Bombeneinschlägen und täglicher Todes-Angst. „Ich sag ihm natürlich, komm bitte mit deiner Familie zu mir. Aber er sagt, nur seine Tochter darf die Ukraine verlassen.“ Michail verstehe den Krieg nicht und fragt sich: „Was wollen wir denn mit der Ukraine anstellen? Für was ist das Ganze? Wozu müssen so viele Menschen sterben und Angst um ihr Leben haben?“

Juri ist wissenschaftlicher Mitarbeiter aus Moskau und wegen des Krieges bereits geflohen

Juri* (25) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der russischen Hauptstadt Moskau. Er sagt: „In der vergangenen Woche war jeder Tag, jeder einzelne Tag, ein absolutes Desaster. Denn wir mussten zuschauen, wie unsere Regierung unser Land und unser Nachbarland in eine Katastrophe reitet. Uns wurden die Augen geöffnet: Die russische Regierung ist verrückt.“

Juri meint, dass viele Russen verwirrt seien, weil sie nicht verstehen könnten, was passiert. „Zudem denken sie einfach, dass es nur eine weitere Krise wie nach dem Georgien-Krieg 2008 oder der Krim-Krise 2014 ist. Aber das ist es nicht.“

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„Die Propaganda-Mittel der russischen Regierung sind sehr weit entwickelt und werden oft unterschätzt. Es betrifft in erster Linie nicht die Staats-Medien, sondern vor allem die sozialen Medien: Facebook, Instagram, das russische Facebook-Pendant „Vkontakte“ und Telegram. Auf diesen Plattformen verbreiten sie regierungsfreundliche Informationen. Seit der Krim-Krise 2014, haben sie auf diesen Netzwerken ihre Propagandakampagne perfektioniert. Als eine normale Person kann man die Wahrheit von Falschmeldungen nicht mehr trennen. Es ist verwirrend und überfordernd.“

Der letzte Radiosender „Echo Moskwy“, der seit den 1990ern unabhängige Nachrichten in Russland berichteten würde, sei am Donnerstag verboten worden, erzählt Juri. „Jetzt wird der Einfluss der Propaganda und der regierungsfreundlichen Medien nur noch größer und Menschen werden sich noch schwerer tun, authentische Nachrichten zu identifizieren. Der russische Staat kennt sein Publikum einfach zu gut, er weiß genau, welche Signalworte gegenüber Russen für ihre Aufmerksamkeit benutzt werden müssen. Zum Beispiel: externe Aggression, Konfrontation mit den USA, eine Gefahr für die russische Unabhängigkeit und Nato.“

Juri sagt, dass die wenigen, die verstehen würden, wie schlimm es gerade um Russland stünde, ihr Heimatland verlassen würden. „Wir haben die Hoffnung auf ein Leben in unserem Land verloren, denn wir wissen jetzt, dass unsere Regierung jeden Tag Verbrechen begeht und wir können nichts daran ändern“ – Juri ist vor kurzem mit seiner Verlobten bereits in die Türkei geflohen.

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Neben dem Kriegsleiden würde Juri jedoch am traurigsten machen, dass die westlichen Länder auch die Kooperation mit russischen Jugendlichen abgebrochen hätten, wie etwa der Deutsche Akademische Austauschdienst. Das sehe er als fataler Fehler, „denn das kreiert eine große Distanz zwischen unseren Gesellschaften und jungen Menschen.“

Auch er habe Gerüchte einer Mobilisierung junger Leute für das russische Militär gehört. „Wenn das passiert, wird die Bewegung gegen den Krieg in Russland deutlich größer werden, denn niemand möchte, dass sein Kind in einem unnötigen Krieg stirbt.“

Leonid ist ein Ingenieur aus Moskau und unterstützt Putins Vorhaben

Leonid (37) arbeitet als Ingenieur in Moskau und meint, dass die meisten Russen den Einmarsch „schon seit Jahren erwartet haben. Denn die Ukrainer sind unsere Brüder, wir sind eine Nation.“ Auf die Frage, warum man Krieg gegen seine eigene Nation führt, sagt Leonid im Wortlaut Putins „es gibt keinen Krieg zwischen der Ukraine und Russland, nur einen russischen Sondereinsatz, um Nazis umzubringen, die Russen in Lugansk und Donezk getötet haben.“

In der momentanen Situation und der jetzigen Politik, würde Leonid alles geben, um Putin zu unterstützen. „Denn was wir gerade durchleben, ist eine Existenzfrage der russischen Unabhängigkeit: Wird es ein Russland in der Zukunft noch geben?“ Die Existenzbedrohung sei angeblich von der USA mit verschiedenen prowestlichen ukrainischen Politikern geplant worden. Denn – Leonid zufolge – habe die Nato angeblich Militärstützpunkte in der Ukraine errichtet. Das russische Militär hätte diese Stützpunkte „schon vor fünf Tagen aufgelöst“, behauptet Leonid weiter – wenngleich es tatsächlich für solche Behauptungen keinerlei Anhaltspunkte gibt.

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So erzählt Leonid von ganz anderen Bildern in der Ukraine: Die russischen Friedenstruppen würden von allen Ukrainern mit Freude in Empfang genommen werden und „die Geretteten“ würden sich über das so harte Regime der ukrainischen Demokraten der letzten acht Jahre – seit 2014 – beklagen. Konfrontiert mit Berichten von den tausenden Toten in der Ukraine der letzten Woche, meint er: „Das russische Militär geht so behutsam wie möglich in der Ukraine vor. Aber die ukrainischen Verbrecher nutzen Zivilisten als menschliche Schilder und verstecken ihre Kanonen in Schulen.“

Seine Informationen habe Leonid von Telegram und über „Vkontakte“: „Telegram ist viel direkter und schneller als die großen Medien. Wenn ein Russe im Donbass erschossen wird, habe ich direkt ein Video davon auf meinem Handy.“ Die Russen, die in Russland auf die Straße gehen aus Protest gegen den Krieg, könnten es nicht verstehen. Erst wenn sie die Dokumente lesen würden, die er gelesen hat, würden sie realisieren, dass sie „gebrainwashed“ wurden.

Die Zukunft sei laut Leonid kein Problem für Russland, denn „die Mehrheit der Ukrainer würde ohnehin schon Russland unterstützen“ und die Sanktionen der EU sehe er als irrelevant.

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Aleksandr studiert in St. Petersburg und plant neben Protesten auch eine potenzielle Flucht aus Russland

Aleksandr* (24) wohnt in Sankt Petersburg und studiert dort seit mehreren Jahren. Er erzählt, wie er den Anfang des Krieges erlebte: „Ich wurde durch einen Telegram-Kanal von Nachrichten vieler Ukrainer mit ‚Wacht auf, der Krieg ist da‘ geweckt. Ich war schockiert. Das hätte niemand für möglich gehalten. Ich habe direkt alle meine ukrainischen Freunde angerufen, um zu schauen, wo sie sind. Es vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht frage, ob sie noch leben. Eine enge Freundin aus dem ukrainischen Mariupol hat keine Elektrizität, kein Wasser und erst Recht kein Handy-Signal.“

Aleksandr beschreibt die Atmosphäre in Sankt Petersburg als ungewiss. „Alle heben Geld ab, kaufen Medikamente und lebensnotwendige Güter. Sie kaufen Haushaltsgeräte, weil sie Angst haben, dass man sie bald nicht mehr kaufen kann. Darüber hinaus herrscht Angst, dass mehr Männer als Soldaten eingezogen werden.“

„Ich verbringe den ganzen Tag auf Telegram. Es fällt mir schwer, die Sachen zu machen, die ich machen soll. In der Uni fällt es mir schwer, zu sitzen und zu lesen. Denn ich weiß jetzt, dass die Regierung, unter der ich lebe, nicht nur schlecht ist, sondern auch kriminell.“

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Mit den Bekannten, die noch für die Regierung sind, fällt es Aleksandr schwer zu sprechen. Er versteht nicht, wie Menschen die Propagandageschichten glauben können. „In der Ukraine gibt es keinen Sondereinsatz, es ist schlichtweg ein Krieg.“ Ihm fällt jedoch auf, dass viele Russen einfach den Überblick verloren haben, was richtig und was falsch sei. Dann würden sie einfach aufgeben, sich weiter zu informieren.

Gerade die Regierung würde Informationen und Daten veröffentlichen, den man nicht vertrauen könne. „Besonders, wenn es um die Zahlen der Opfer des Krieges geht. Man darf nicht vergessen: Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.“

Aleksandr erzählt, dass es bereits viele Petitionen, Appelle und offene Briefe gegen den Krieg in Russland gebe. Aber „die Gruppe, die sich gegen den Krieg in Russland ausspricht, ist noch nicht endgültig geformt. Wir finden uns gerade erst zusammen und sagen ‚Wir existieren‘. Wir sind noch am Anfang von diesem Prozess.“ Organisieren würden sie sich hauptsächlich über soziale Netzwerke. Trotzdem sagt er, dass er Angst habe, denn vergangene Kundgebungen wurden brutal aufgelöst.

Auch vor der Zukunft habe Aleksandr Angst. „Für mich ist am wichtigsten, dass man noch mit dem Zug fahren kann. Nach Georgien oder Armenien oder in irgendein Land wo man als Russe kein Visum braucht. Ich hätte früher nie gedacht, dass ich irgendwann mal Russland hinter mir lassen würde. Aber im Moment denke ich über diese Möglichkeit viel nach.“

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*Namen wurden zum Schutz der Personen geändert.