17. Oktober 2022

“Es könnte sein, dass Corona zu dauerhaften Verschiebungen zwischen den Gastländern führt”

Entwicklung der Anzahl internationaler Studierender in wichtigen Gastländern 2019–2020

Wie hat sich die Pandemie auf die internationale Mobilität von Studierenden sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ausgewirkt? Zahlen zu dieser und vielen anderen Fragen präsentiert die neue Ausgabe von Wissenschaft weltoffen, über die wir mit den beiden Projektleitern Dr. Jan Kercher (DAAD) und Dr. Ulrich Heublein (DZHW) gesprochen haben. Auch die Frage, was es mit dem neuen Blog zu Wissenschaft weltoffen auf sich hat, konnten wir dabei klären.

Die neue Ausgabe von Wissenschaft weltoffen widmet sich in verschiedenen Schlaglichtern wieder intensiv den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die internationale Studierendenmobilität. Lässt sich sagen, welche Folgen die Corona-Pandemie für die Studierendenmobilität weltweit hatte?

Kercher: Wir können auf Basis der mittlerweile vorliegenden Daten zumindest sagen, welche unmittelbaren Folgen Corona für die vier wichtigsten Gastländer internationaler Studierender weltweit hatte, also die USA, das Vereinigte Königreich, Australien und Deutschland. Und hier zeigt sich, dass die Corona-Effekte je nach Gastland sehr unterschiedlich ausgefallen sind. Die stärksten Einbrüche bei der Zahl der internationalen Studierenden gab es in Australien und den USA, hier kam es bei den internationalen Studienanfängerinnen und -anfängern zu Rückgängen von 23 Prozent bzw. sogar 46 Prozent. Auch die Gesamtzahl der internationalen Studierenden ging in beiden Ländern zurück. Ganz anders sah es hingegen im Vereinigten Königreich aus, hier waren keinerlei Rückgänge zu verzeichnen, sondern sogar relativ deutliche Zuwächse. In Deutschland sank zwar die Zahl der internationalen Studienanfängerinnen und -anfänger recht deutlich, aber bei der Gesamtzahl der internationalen Studierenden gab es gleichzeitig ein leichtes Plus.

Unklar ist derzeit aber noch, wie dauerhaft diese direkten Corona-Effekte in den verschiedenen Gastländern ausfallen werden. Möglicherweise kommt es zu einer recht schnellen Erholung auf das Vor-Corona-Niveau. Es könnte aber auch sein, dass Corona zu dauerhaften Verschiebungen zwischen den Gastländern führt. Das werden wir erst in einigen Jahren endgültig beantworten können.

Dr. Jan Kercher ist Experte für externe Studien und Statistiken beim DAAD. (Bildquelle: Eric Lichtenscheid)

Können Sie die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Entwicklung der Zahl der internationalen Studierenden in Deutschland noch etwas genauer ausführen? Wie ist es möglich, dass die Zahl der internationalen Studienanfängerinnen und -anfänger so deutlich sinkt, gleichzeitig aber die Gesamtzahl der internationalen Studierenden steigt?

Heublein: In der Tat haben wir divergierende Entwicklungen bei den internationalen Studierenden beobachtet. Trotz der weltweiten Mobilitätseinschränkungen ist die Zahl der internationalen Studierenden in Deutschland weiter gewachsen, im Wintersemester 2020/21 um 2% und ein Jahr später sogar um 8% auf fast 350.000. Demgegenüber fällt die Zahl der Studienanfänger und -anfängerinnen 2020 deutlich, steigt aber schon im Wintersemester 2021/22 wieder um 16%.

Wie lässt sich das erklären? Zum einen haben viele internationale Studierende aufgrund der durch die Corona-Pandemie veränderten Studienbedingungen ihr Studium verlängert, obwohl sie kurz vor dem Abschluss standen. Sie haben sich trotz Hochschulschließungen und Übergang zu digitaler Lehre dazu entschieden, in Deutschland zu bleiben, aber günstigere Bedingungen für ihren Studienabschluss abzuwarten. Zum anderen haben sich mehr internationale Absolventinnen und Absolventen eines Bachelorstudiums als je zuvor entschlossen, in Deutschland auch ein Masterstudium aufzunehmen. Die Attraktivität Deutschlands als internationaler Studienort hat sich durch die Pandemie nicht verringert.

Der starke Rückgang der internationalen Studienanfängerinnen und -anfänger betrifft dabei vor allem jene Studierenden, die nur einen temporären Studienaufenthalt in Deutschland absolvieren wollen. Ihre Zahl hat sich im ersten Coronajahr um die Hälfte reduziert, ist aber schon 2021 wieder um ein Drittel gestiegen. Offensichtlich haben die pandemiebedingten Beschränkungen vor allem internationalen Gast- und Austauschstudierenden kürzere Aufenthalte in Deutschland erschwert.

Dr. Ulrich Heublein ist Projektleiter in der Abteilung “Bildungsverläufe und Beschäftigung” beim DZHW.

Wie sieht es mit der umgekehrten Mobilitätsrichtung aus, d.h. wie hat sich die Corona-Pandemie auf die Auslandsmobilität der deutschen Studierenden ausgewirkt?

Kercher: Schon in der vorigen Ausgabe von Wissenschaft weltoffen haben wir uns mit den Auswirkungen von Corona auf die Erasmus-Mobilität der Studierenden in Deutschland befasst. Hier zeigte sich, dass die Zahl der Erasmus-Aufenthalte im ersten Corona-Jahr im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit um rund 50 Prozent gesunken ist. Dass es nicht zu noch stärkeren Einbrüchen kam, lag auch daran, dass die Europäische Kommission schnell reagierte und es den Erasmus-Teilnehmenden ermöglichte, auch hybride oder sogar rein virtuelle Erasmus-Aufenthalte durchzuführen.

Mittlerweile liegen für die wichtigsten Gastländer nun auch erste Daten zur abschlussbezogenen Auslandsmobilität, d.h. zur Degree Mobility deutscher Studierender im ersten Corona-Jahr 2020 vor. Je nach Gastland zeigen sich sehr unterschiedliche Entwicklungen. Zu deutlichen Rückgängen bei der Zahl deutscher Studierender kam es in den USA, im Vereinigten Königreich und in Frankreich. Im Gegensatz dazu waren in der Schweiz, in Österreich und in den Niederlanden deutliche Zuwächse bei den deutschen Studierenden zu verzeichnen.

Ein wichtiger Teil von Wissenschaft weltoffen befasst sich auch mit der internationalen Mobilität von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern: Wie stark hat sich Corona hier auf die Ein- und Ausreisemobilität in Deutschland ausgewirkt?

Heublein: Die internationale Mobilität von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen wurde durch die Corona-Pandemie stark beeinträchtigt. Davon waren insbesondere die geförderten Gastaufenthalte deutscher Forscherinnen und Forscher im Ausland betroffen. Deren Zahl hat sich 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 61% auf rund 5.300 reduziert. Weniger stark sind die geförderten Gastaufenthalte internationaler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland zurückgegangen. Die großen außeruniversitären Forschungsorganisationen haben mit 6.400 Gastaufenthalten 44% weniger und die weiteren Förderorganisationen mit rund 23.000 Gastaufenthalten 30% weniger als 2019 gefördert.

Zum Schluss noch eine Frage zu dem neuen Blog von Wissenschaft weltoffen, für den wir dieses Interview führen: Was war der Anlass hierfür und was können die Leserinnen und Leser in Zukunft von den Beiträgen auf dem Blog erwarten?

Kercher: Mit dem Blog wollen wir all jene, die sich für Internationalisierung an den Hochschulen interessieren, zeitnah auf neue Daten und Studien zur internationalen akademischen Mobilität und zur Internationalisierungsprozessen in Lehre und Forschung hinweisen. Angedacht sind zudem Sonderauswertungen aus dem umfangreichen Datenbestand von Wissenschaft weltoffen, um spezifische Aspekte, für die in der regulären Hauptausgabe kein Platz ist, etwas genauer zu betrachten.

Heublein: Darüber hinaus wollen wir aber auch den Blog für Expertinnen und Experten, für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern öffnen, indem wir Interviews mit ihnen zu ihren Erfahrungen und Analysen führen, oder ihnen die Möglichkeit zu Gastbeiträgen geben. Immer geht es uns darum, neue Erkenntnisse zur Internationalisierung schnell an Interessenten zu vermitteln und Anregungen für die Förderung des internationalen Austausches an den Hochschulen zu verbreiten.

Quelle: Privat

Autorin: Naomi Knüttgen, DAAD

Naomi Knüttgen ist seit 2019 beim DAAD tätig und seit 2020 an der jährlichen Publikation Wissenschaft weltoffen beteiligt. Im Referat für Forschung und Studien untersucht sie insbesondere die internationale Studierenden- und Wissenschaftlermobilität sowie die Hochschulinternationalisierung im Asiatisch-Pazifischen Raum.

Zum Redaktionsteam

Dieser Artikel gehört zu der Rubrik

nach oben