«Wenn die Taliban mich lassen, würde ich gerne Medizin studieren» – wie junge Frauen in Kabul zurück an die Unis drängen

Studieren ist für Frauen in Afghanistan unter den Taliban schwierig geworden. Aber nicht unmöglich.

Andreas Babst, Kabul
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Zwei junge Afghaninnen lernen bei sich zu Hause in Kabul. Ihre Schule können sie gegenwärtig nicht besuchen.

Zwei junge Afghaninnen lernen bei sich zu Hause in Kabul. Ihre Schule können sie gegenwärtig nicht besuchen.

Zohra Bensemra / Reuters

Sahar hofft, dass die Taliban ihr Versprechen halten. Die 18-Jährige studiert am Polytechnikum in Kabul, es ist schwer, an der staatlichen Universität überhaupt angenommen zu werden. Sahar möchte Ingenieurin werden. Aber an der Uni war sie seit Monaten nicht mehr. Nach dem Fall von Kabul waren sie nicht mehr erwünscht. «Die Taliban sagten, wir sollten heimgehen», erzählt Sahar. Nun hat die Taliban-Führung versprochen, dass ab Ende Februar alle Universitäten auch für Frauen wieder geöffnet sind.

Sahar sitzt in einer Art Lehrerzimmer des English Muslim Language Institute in Kabul. Ihren Nachnamen möchte sie nicht nennen. Sie hat sich am Institut eingeschrieben, weil sie ihr Englisch verbessern will, um dereinst im Ausland weiterzustudieren. Das private Institut ist eine Art Auffangbecken geworden für junge Kabulerinnen, die nicht untätig daheimbleiben wollen. Neben Sahar sitzt Uranus, 17, auch ihr Nachname soll nicht genannt werden. Uranus hat gerade die Mittelschule abgeschlossen. Sie büffelt Englisch, um die Uni-Aufnahmeprüfungen zu schaffen. «Wenn die Taliban mich lassen, würde ich gerne Medizin studieren», sagt sie. Uranus hat in den vergangenen Monaten weiterhin eine private Mädchenschule besucht. Das tolerierten die Taliban.

Laut einem Unicef-Bericht lebten 2019 in Afghanistan 24 Prozent der Mädchen und jungen Frauen in städtischen Zentren. Ausserhalb besuchen Mädchen meistens gerade einmal die Primarschule – laut Unicef waren 2015 in der konservativen südlichen Provinz Kandahar weniger als 10 Prozent der Mädchen in der Sekundarstufe eingeschrieben. In den grösseren Städten wie Kabul allerdings gibt es viele junge Frauen wie Sahar und Uranus. Sie sind selbstbewusst und wollen sich bilden, sie haben Träume und sind nicht bereit, diese einfach aufzugeben.

Es ist nicht so, dass die Taliban allen Frauen den Zugang zur höheren Bildung gänzlich verwehren. Am Tag nach unserem Treffen fährt Sahar zum ersten Mal seit Monaten ans Polytechnikum, sie holt ihren neuen Kursplan ab. Die Situation für junge Frauen ist regional unterschiedlich – und manchmal ziemlich unübersichtlich.

Afghanische Mädchen lernen in einer Primarschule in Herat im Westen des Landes.

Afghanische Mädchen lernen in einer Primarschule in Herat im Westen des Landes.

Petros Giannakouris / AP

Halten die Taliban ihr Versprechen?

Grundsätzlich gilt: Alle Primarschulen in Afghanistan sind auch für Mädchen offen, die Primarschulen öffneten bereits Ende August 2021, kurz nach der Taliban-Übernahme. Ab der Sekundarstufe wird es komplizierter. Im September wurden alle männlichen Sekundarschüler und ihre Lehrer aufgefordert, fortan wieder am Unterricht teilzunehmen. Die Meldung sorgte für einen internationalen Aufschrei – die Entscheidung weckte Erinnerungen ans erste Taliban-Regime, unter dem Mädchen faktisch von den Schulen ausgeschlossen waren.

Ab Oktober entstand dann ein Flickenteppich von geöffneten und geschlossenen Schulen. Private Mädchenschulen durften in Kabul offen bleiben, in nördlichen Provinzen wie Balkh ebenfalls. An anderen Orten blieben Mädchen alle Sekundarschulen verschlossen. Laut dem Taliban-Aussenminister waren im Dezember in 10 Provinzen die Sekundarschulen für Mädchen geöffnet, das ist nicht einmal ein Drittel der insgesamt 34 Provinzen.

In den Wintermonaten Januar und Februar bleiben die öffentlichen Schulen und Universitäten in Kabul und im verschneiten Norden jeweils geschlossen. Anfang Monat sagte der Taliban-Bildungsminister, dass Ende Februar die Universitäten für Frauen wieder öffnen würden. Es bleibt unklar, ob die Taliban ihr Versprechen halten werden, ein ähnliches hatten sie in den 1990er Jahren gebrochen. Im wärmeren Süden des Landes öffneten in den vergangenen Tagen die ersten öffentlichen Universitäten die Tore auch für Frauen.

Die Taliban stellen immer die gleiche Bedingung, damit Mädchen und Frauen Schulen und Universitäten besuchen können: Die Klassen müssen geschlechtergetrennt sein, auch der Transport zu den Schulen. Die Mädchen müssen von Frauen unterrichtet werden. Diese Forderung ist kaum zu erfüllen, laut Unicef sind nur 34 Prozent des afghanischen Lehrpersonals Frauen.

In der Praxis scheinen die Taliban zumindest teilweise zu Konzessionen bereit. «In den ersten Monaten unter den Taliban konnten wir die Klassen nicht trennen. Wir hatten zu wenige Mädchen, um einen eigenen Kurs füllen zu können», sagt Mehdi Ullah Hassas. Er ist Lehrer am English Muslim Language Institute und unterrichtet Sahar und Uranus. Die nun rein weibliche Klasse hat einen männlichen Lehrer. Hassas verdient wie fast alle Lehrer in Afghanistan weniger als zuvor, vor den Taliban waren es rund 450 Franken im Monat, jetzt sind es weniger als 300.

Mädchen in einer Mittelschule in Herat.

Mädchen in einer Mittelschule in Herat.

Petros Giannakouris / AP

Laut einem Bericht des Afghanistan Analysts Network dürfte sich die Haltung der Taliban gegenüber der Bildung von Frauen und Mädchen in den vergangenen Jahren verändert haben. In den 1990er Jahren war es verpönt und unter Strafe gestellt, dass Mädchen sich bilden, einige wichen in geheime Untergrundschulen aus. Diesmal gibt es glaubwürdige Berichte, dass auch Taliban-Führer ihre Töchter in die Schule schicken, sie gar studieren lassen. Vor 2009 brannten die Taliban in den von ihnen eroberten Gebieten noch alle Schulen nieder und töteten die Lehrer. Damit verspielten sie sich bei der lokalen Bevölkerung so viel Goodwill, dass sie einen neuen «Code of Conduct» für ihre Kämpfer erstellten. Fortan blieben die Schulen offen. Bevor die Taliban die Macht im ganzen Land übernahmen, gab es sogar eine Zusammenarbeit mit dem Bildungsministerium des verfeindeten afghanischen Staates.

Der Englischlehrer Mehdi Ullah Hassas erzählt, dass kurz nach dem Fall Kabuls mehrere Taliban-Offizielle während Wochen in seinem Institut Englischunterricht genommen hätten.

Private Universitäten sind offen

Am Nachmittag fahren Busse zu den privaten Universitäten Kabuls, sie sind voll mit jungen Frauen in eleganten Kleidern. Am Eingang erwarten sie Schilder mit den neuen Kleidervorschriften der Taliban: Studentinnen hätten entweder voll verschleiert zu sein oder den Hijab, das Kopftuch, zu tragen. Während öffentliche Universitäten Frauen ausschlossen, blieben die privaten Universitäten Kabuls in den vergangenen Monaten geöffnet.

Emal Hekmety ist der Sprecher der privaten Kardan-Universität, er sagt: «Für uns war es vor allem eine logistische Herausforderung.» Nach dem Fall Kabuls herrschte Ungewissheit, ob die Universität wieder würde öffnen können, alle hatten noch die Bildungspolitik der Taliban aus den 1990er Jahren in Erinnerung. Die Taliban erlaubten den Studenten und Studentinnen der Kardan-Universität bald die Rückkehr, allerdings nur mit getrennten Stundenplänen: Am Morgen kommen die Studenten, am Nachmittag die Studentinnen. Die Dozenten unterrichten am Morgen dasselbe wie am Nachmittag. Dass die Kardan-Universität so schnell die neuen Regeln der Taliban umsetzten konnte, hat einen einfachen Grund: «Wir können uns das alles leisten», sagt Hekmety, das Trennen der Stundenpläne, der Transport der Studentinnen. Die Kardan-Universität kostet pro Monat 70 bis 80 Franken, je nach Studiengang. Das ist viel Geld für die meisten afghanischen Familien.

Es ist nicht so, dass sich an der Kardan-Universität fast nichts verändert hätte. Es gebe keine Sportaktivitäten mehr für Studentinnen, sagt Hekmety. Und überhaupt habe sich die Zahl der Studenten in den vergangenen Monaten halbiert, es seien noch knapp 2000. Viele können sich die Uni-Gebühr nicht mehr leisten. Andere sind ins Ausland geflüchtet. Eine junge Frau auf dem Gang erzählt, sie komme heute, um den TOEFL zu machen, ein Examen zur Erlangung eines Englisch-Zertifikats. Sie will versuchen, irgendwo in den USA ein Stipendium zu erhalten. Sie ist jung, gut gebildet und will nur weg.

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