Stabile Demokratie und attraktiver Wirtschaftsstandort – Uruguay wird zum Vorzeigeland in Südamerika

Uruguay glänzt im Schatten seiner grossen Nachbarn Brasilien und Argentinien mit stabilen politischen Verhältnissen. Nun werten der Ukraine-Konflikt und die Energiewende das Land auch geostrategisch auf.

Alexander Busch, Montevideo
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Mit dem Charme einer südamerikanischen Metropole von vor 50 Jahren: Das Zentrum Montevideos.

Mit dem Charme einer südamerikanischen Metropole von vor 50 Jahren: Das Zentrum Montevideos.

Raul Martinez / Imago

Schon direkt nach der Ankunft in Montevideo wird deutlich, dass man hier ein anderes Südamerika betritt: Im eleganten Flughafen im Vorort Carrasco gibt es kein Gedränge, keine Schlangen bei der Immigration oder beim Zoll. Die Fahrt ins 20 Kilometer entfernte Stadtzentrum entlang der Atlantikküste verläuft ruhig, ohne Stau. Im Vergleich zu dem chaotischen, verstopften São Paulo oder Buenos Aires hat man das Gefühl, in einen Kurort zu kommen – trotz den 1,8 Millionen Menschen, die hier leben.

Anders als in den meisten Millionenstädten Südamerikas gibt es hier wenig glitzernde Büro- oder Wohntürme. Selbst die Geschäftsgegenden werden immer wieder abgelöst von Vierteln mit Häusern oder kleineren Wohn- und Geschäftsgebäuden. Das Zentrum um den Hafen und die Altstadt sind in manchen Teilen restauriert. Letztere ist teilweise aber auch renovierungsbedürftig und strahlt mit ihren Kramläden einen Charme von vor 50 Jahren aus. Es ist symptomatisch, dass hier stolz darauf verwiesen wird, dass die Zeitschrift «Reader’s Digest» – die ihre besten Tage hinter sich hat – Uruguay als das lebenswerteste und grünste Land von Nord- und Südamerika eingestuft hat.

Zwei Drittel der Bevölkerung sind Mittelschicht

Dieser Eindruck eines konservativen Mittelmasses setzt sich auch in den Statistiken fort: Anders als die meisten Gesellschaften Lateinamerikas hat Uruguay nicht nur Superreiche neben einer schmalen Mittelschicht und sehr vielen Armen. Zwei Drittel der 3,6 Millionen Uruguayer zählen zur Mittelschicht. Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, gibt es wenige. Die Arm-Reich-Gegensätze sind die geringsten in Lateinamerika. Das Pro-Kopf-Einkommen ist mit 17 000 Dollar im Jahr das höchste in der Region.

Ungleichheit der Einkommensverteilung in Südamerika (Gini-Koeffizient)

Im Strassenbild Montevideos fehlen die Luxusautos wie in den Metropolen der Nachbarländer, wo die Reichen ihren Wohlstand gerne zur Schau stellen. Überhaupt schätzt man, ähnlich wie in der Schweiz, Diskretion und «low profile». So kann es vorkommen, dass in einem Café der nationale Fussballstar Diego Forlán unbehelligt von den anderen Gästen sitzt – völlig undenkbar wäre das bei einem Neymar in Brasilien.

Man fragt sich, wie es dieses für Südamerika kleine Land – halb so gross wie Deutschland, mit nur knapp der Hälfte der Einwohner der Schweiz – in der direkten Nachbarschaft von so grossen und politisch zerrissenen Staaten wie Brasilien und Argentinien schafft, sozial und wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Wie ist es diesem Land gelungen, sich trotz durchaus ähnlicher Gesellschaft, Geschichte und Geografie von den Nachbarländern zu isolieren und abzuheben?

Populisten chancenlos

Eine Antwort liefert die Politik. Uruguay ist eine der stabilsten Demokratien weltweit. Auf dem Demokratie-Index der Economist Intelligence Unit (EIU) steht Uruguay auf Platz 13, drei Plätze nach der Schweiz, zwei vor Deutschland. Es ist demnach die einzige vollwertige Demokratie in Südamerika, einem Kontinent, für den die EIU seit einigen Jahren einen stetigen Abbau der Qualität der Demokratien verzeichnet. Uruguay bewege sich gegen den regionalen Trend, heisst es bei der EIU. Das Land verbessere als eines der wenigen Staaten weltweit seit mehr als 15 Jahren stetig seine Demokratie. Auf dem Korruptionsindex von Transparency steht Uruguay auf Rang 18 von 180 Ländern einsam an der Spitze in Lateinamerika, zwei Plätze vor Frankreich.

An der Plaza Independencia herrscht ein wilder Mix aus den architektonischen Stilen des letzten Jahrhunderts.

An der Plaza Independencia herrscht ein wilder Mix aus den architektonischen Stilen des letzten Jahrhunderts.

Andia / Getty

Der Politologe Sebastian Grundberger von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Uruguay sieht im Unterschied zum restlichen Lateinamerika einen hohen gesellschaftlichen Konsens, das stabilste Parteiensystem der Region mit stärkeren demokratischen Abwehrkräften als in den Nachbarländern. Populisten hätten hier keine Chancen, sagt Grundberger.

Wie reibungslos die Politik in Uruguay funktioniert, liess sich gerade Ende März bei einem Referendum beobachten. Dabei stimmten die Uruguayer darüber ab, ob 135 von insgesamt 476 Gesetzesartikeln ungültig werden sollten. Diese gehörten zu einem Gesetzespaket, welches die Rechts-Mitte-Regierung des Präsidenten Luis Lacalle Pou kurz nach Antritt 2020 im Kongress verabschiedet hatte. Zentral waren die Themen Sicherheit und Bildung, wo der Zentralstaat stärker durchgreifen will. Zudem soll die Macht der Gewerkschaften beschränkt sowie die Dominanz der staatlichen Monopole etwa bei Telekom reduziert werden.

Trotz Meinungsunterschieden keine gespaltene Gesellschaft

Dagegen hatte der einflussreiche Gewerkschaftsdachverband mobilgemacht. Doch anders als in den Nachbarländern gab es im Vorfeld des Referendums keine wütenden Proteste oder gar gewalttätige Auseinandersetzungen. Auch am Abstimmungssonntag gingen die Familien an der Rambla – der Uferstrasse Montevideos – spazieren, ausgestattet mit Kalebassen (Trinkgefässe aus Kürbishüllen) und Thermoskannen, um ihren Mate-Tee zu trinken.

Dass sich die Regierung mit einem hauchdünnen Vorsprung durchsetzen konnte und die Gesetze also gültig bleiben, lässt sich vor allem mit der Popularität des Präsidenten erklären. Der 49-jährige Jurist Lacalle Pou stammt aus einer politischen Familie, die seit Anfang letzten Jahrhunderts Uruguays Politik prägt. Sein Vater war von 1990 bis 1995 Präsident. Doch Lacalle Pou stieg erst mit knapp 30 Jahren in die Politik ein. Er hatte lange den Ruf eines surfenden Sonnyboys; ihm gelang es erst 2019 beim zweiten Anlauf, mit einer knappen Mehrheit gewählt zu werden.

Präsident Luis Lacalle Pou ist wegen seines Krisenmanagements in der Pandemie beliebt. Der konservative Jurist stammt aus einer traditionellen Politikerdynastie. Hier bei einem Staatsbesuchs in Paraguay.

Präsident Luis Lacalle Pou ist wegen seines Krisenmanagements in der Pandemie beliebt. Der konservative Jurist stammt aus einer traditionellen Politikerdynastie. Hier bei einem Staatsbesuchs in Paraguay.

Jorge Saenz / AP

Vor allem sein besonnenes Pandemie-Management hat Pou populär gemacht: Freiheit mit Verantwortung forderte er immer wieder von den Bürgern. Einen Lockdown gab es nie. Zeitweise war Homeschooling verordnet. Das Land verfügte bereits über eine gute Breitbandversorgung und eine etablierte digitale Bildungsinfrastruktur. Bars und Restaurants mussten lediglich um 24 Uhr schliessen. Uruguay wurde schnell das Land mit den meisten geimpften Menschen in Lateinamerika nach Chile. 52 Prozent der Bevölkerung beurteilen Lacalle Pou in der Hälfte seiner Amtszeit positiv – das ist die höchste Beliebtheit eines Präsidenten seit langem. Dass die Wirtschaft nach mehreren Jahren der Stagnation wieder wächst, hilft Pou zusätzlich.

Bald das einzige konservativ regierte Land in Südamerika?

Für den Präsidenten ist das Referendum wie gewonnene Midterm-Wahlen. Gut möglich, dass Pou am Jahresende neben den Präsidenten von Ecuador und Paraguay der einzige konservative Staatschef in Südamerika sein wird. Er entwickle sich in einer politisch nach links driftenden Region immer mehr zum Referenzpunkt für die bürgerlichen Kräfte, sagt der Politologe Grundberger.

Das gilt auch für die Unternehmen in Südamerika. Diese lockt die Stabilität Uruguays. In den letzten Jahren sind vor allem aus Argentinien zahlreiche Unternehmer über den Río de la Plata gekommen. So etwa Marcos Galperín, der Gründer von Mercado Libre, der erfolgreichsten Internetplattform Lateinamerikas, mit der gesamten Führungsmannschaft. Venancio Trigo, Rechtsanwalt von der Wirtschaftskanzlei Gujer & Regules in Montevideo, berichtet, dass inzwischen auch Detailhändler aus Chile überlegten, ihre Zentralen nach Uruguay zu verlegen. In Chile verunsichere die Unternehmer der zunehmende Linkstrend in der Politik.

Spannend wird nun, was Pou mit der Bestätigung im Amt in seinen verbleibenden zwei Jahren machen wird. Reformen des Rentensystems und der Bildung stehen auf der Agenda. Vor allem im Schulsystem harzt es: 40 Prozent der Schüler schliessen die Schule nicht ab. Veraltete Lehrpläne und eine Personalpolitik für Lehrer, bei der die Gewerkschaften Stellen nach dem Senioritätsprinzip besetzen, sollen der Hauptgrund sein.

Software als wichtiges Exportprodukt

Für Uruguay ist das eine tickende Zeitbombe. Das Land exportiert pro Einwohner rekordmässig viel Software. Es ist ein wichtiger Startup-Standort in der Region geworden. Das Fintech-Unternehmen dLocal aus Uruguay ist an der Wall Street heute rund zehn Milliarden Dollar wert. Der Lieferdienst PedidosYa wurde inzwischen von Delivery Hero aus Deutschland übernommen. Doch es fehlen zunehmend Ingenieure und Programmierer. «Uruguay könnte mit seiner fortgeschrittenen Digitalisierung das Estland Südamerikas sein», sagt Mischa Groh, Geschäftsführer der Deutsch-Uruguayischen Industrie- und Handelskammer.

Der Ökonom Augustin Iturralde hofft auf weitergehende Reformen für die Wirtschaft. Der Direktor des Centro de Estudios para el Desarrollo, eines liberalen Wirtschaftsinstituts, ist beim Thema Wettbewerbsfähigkeit kritischer als die meisten Gesprächspartner. Uruguay sei institutionell eine hochentwickelte Demokratie. Doch in der Wirtschaft regiere Mittelmässigkeit. Beim Doing Business, also bei der Unternehmerfreundlichkeit, sei das Land abgeschlagen. Staatliche Monopole bei Telekom würden geduldet. Uruguay sei deswegen ein teurer Standort. Die Produktivität müsse steigen, sonst werde Uruguay an Attraktivität verlieren. «Wir sind ein kleines Land», sagt Iturralde. «Da müssen wir schon mehr bieten.»

97 Prozent des Stroms werden nachhaltig gewonnen

Doch Uruguay könnte Glück haben. Die weltweite Energiewende und die geopolitischen Verschiebungen begünstigen das Land am Río de la Plata. Denn einerseits hat Uruguay sein Stromsystem mit massiven Investitionen in Windparks in zehn Jahren zu einem der nachhaltigsten weltweit verwandelt. Im menschenleeren Landesinnern drehen seitdem auf den Hügeln Windräder. 97 Prozent seines Stroms produziert das Land heute nachhaltig, ohne Kohlendioxid freizusetzen. Das bedeutet aber auch: Uruguay könnte in kurzer Zeit ein strategisch wichtiger Lieferant von grünem Wasserstoff werden - als Ersatz für Öl, Kohle und Gas als Energiequellen.

Uruguay produziert vor allem wegen seiner Windparks 97 Prozent seines Stroms nachhaltig, ohne Kohlendioxid freizusetzen.

Uruguay produziert vor allem wegen seiner Windparks 97 Prozent seines Stroms nachhaltig, ohne Kohlendioxid freizusetzen.

Danflcreativo / Imago

Der deutsche Wirtschaftsingenieur Aram Sander, der in Uruguay bereits Windparks aufgestellt und in Betrieb genommen hat, sagt: «Mit dem Ukraine-Konflikt kommen mit der Frage nach Versorgungssicherheit ganz neue Argumente auf den Tisch.»

Vertrauen ist eines davon. Es gebe kein Land in der Region, das so verlässlich seine Verträge erfülle, sagt Sander, der jetzt für das deutsche Unternehmen Enertrag weltweit Wasserstoffprojekte anschiebt. Das hohe Vertrauen in Uruguay messe sich an den niedrigen Zinsraten. In Südamerika hat nur Chile ein besseres Kreditrating. Entwicklungsbanken gäben Uruguay gerne Kredit. Sander ist sicher: «Uruguay könnte schnell einen relevanten Ersatz für russisches Erdgas liefern.»

Ein weiteres Indiz für die Stabilität, für welche Uruguay bei Investoren bekannt ist, sei auch das wachsende Interesse von Family-Offices, also reichen Vermögensverwaltern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in Uruguay, beobachtet der Finanzberater Thomas Lagemann aus Hamburg. Die suchten keine Wochenendhäuser im mondänen Ferienort Punta del Este, sagt Lagemann, der in Uruguay aufgewachsen ist. Die wollten professionell in Farmen und Ländereien investieren.