Afghanistan: „Der Wissenschaftsbetrieb ist nur noch ein Schatten seiner selbst“

DAAD/Letcher Lazo

Dr. Christian Hülshörster, Bereichsleiter „Stipendienprogramme Süd“ im DAAD: „Das Land hat einen unglaublichen Braindrain erlebt.“

Im August 2021 haben die Taliban erneut die Macht in Afghanistan ergriffen. Dr. Christian Hülshörster, DAAD-Bereichsleiter „Stipendienprogramme Süd“, über die kritische Lage der Hochschulen im Land.

Gut 20 Jahre lang herrschte in Afghanistan eine brüchige Demokratie. Infolge der Terroranschläge vom 11. September 2001 hatte eine militärische Allianz unter Führung der USA das Land vom islamistischen Regime der Taliban befreit. In den vergangenen zwei Jahrzehnten versuchten die Vereinten Nationen mithilfe ziviler und militärischer Unterstützung, eine Demokratie in Afghanistan zu etablieren. Dazu gehörte auch der Aufbau von Hochschulen unter Beteiligung des DAAD und der deutschen Hochschulen. Nachdem die letzten Truppen im Juli 2021 das Land wieder verlassen hatten, ergriffen die Taliban binnen kürzester Zeit erneut die Macht. Dr. Christian Hülshörster hat den Aufbau von Forschung und Lehre in Afghanistan über viele Jahre hinweg unterstützt. Im Interview berichtet er, wie es aktuell um den Wissenschaftsbetrieb am Hindukusch steht.    

Seit über einem Jahr sind die Taliban wieder an der Macht in Afghanistan. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation an den Hochschulen im Land ein?
Die Informationslage ist schwierig, es gibt keine flächendeckende Berichterstattung. Informationen erhalten wir in der Regel über ehemalige Geförderte sowie durch Menschen, die das Land verlassen haben und nach Deutschland geflohen sind. Den Berichten zufolge ist der Zustand der Hochschulen äußerst desolat. Nach der Machtübernahme der Taliban hat das Land einen unglaublichen Braindrain erlebt. Viele Hochqualifizierte haben Afghanistan schnell verlassen. An der Hilfe zur Ausreise hat sich der DAAD aktiv beteiligt.

Wie sieht die Hochschullandschaft in Afghanistan unter den Taliban aus?
Im Islamischen Emirat Afghanistan hat Hochschulbildung nicht gerade Priorität. Die immer schon spärlichen Gelder wurden noch einmal signifikant reduziert. Hochschulangestellte bekommen nun maximal die Hälfte ihres ursprünglichen Gehalts, und das auch nur, wenn genug Geld da ist. Unter diesen Bedingungen können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihren Verpflichtungen im Bereich der Lehre nicht ausreichend nachkommen oder sie überhaupt nicht mehr ausüben. Die Menschen sind gezwungen, sich nach alternativen Quellen für ihren Lebensunterhalt umzusehen. Unter diesen Bedingungen ist natürlich auch die Zahl der Studierenden massiv gesunken. Man muss sich wirklich fragen, wer dort eigentlich noch studiert oder unterrichtet.

Afghanistan: „Der Wissenschaftsbetrieb ist nur noch ein Schatten seiner selbst“

DAAD

Trübe Aussichten: Seit die Taliban wieder das Sagen haben, wird an den Universitäten in Afghanistan kaum noch studiert.

Was bedeutet das für den Wissenschaftsbetrieb insgesamt und die Wissenschaftsfreiheit in Afghanistan?
Die Wissenschaftsfreiheit ist faktisch nicht mehr gegeben, der Wissenschaftsbetrieb nur noch ein Schatten seiner selbst. Nach der Machtübernahme haben die Taliban sofort damit begonnen, Funktionstragende an den Hochschulen auszuwechseln. Das konnten wir gut am Beispiel der Universität Kabul beobachten. Der Rektor, früher stellvertretender Hochschulminister Afghanistans, wurde drei Tage nach der Machtübernahme vor die Tür gesetzt. Das Amt ging an einen Herrn, der seine Ausbildung an einer Koranschule erworben hat. Diese Vorgehensweise erleben wir im ganzen Land. Positionen werden nicht auf der Basis wissenschaftlicher, sondern aufgrund religiöser Qualifikationen vergeben.

Welche Folgen hat die Neubesetzung der Hochschulämter für die Forschung und Lehre im Land?
Die Taliban haben das Hochschul-Curriculum gewaltig zusammengestrichen. Vor allem die Geistes- und Sozialwissenschaften, aber auch künstlerische Fächer wie Theaterwissenschaften oder Bildende Kunst wurden teils einfach geschlossen. Der Germanistik in Kabul etwa hat man den größten Teil der von uns gespendeten Lehr- und Lernmittel weggenommen und die Fakultät aus ihren Räumlichkeiten vertrieben. Stattdessen werden dort jetzt die beiden afghanischen Nationalsprachen Pashto und Dari-Persisch unterrichtet. Mit Ausnahme von Englisch sind die meisten westlichen Fremdsprachen aus den Lehrplänen verschwunden.

Wie stellt sich die Situation afghanischer Frauen an den Hochschulen dar?
Die Taliban haben die Geschlechtertrennung an den Hochschulen mit großer Vehemenz durchgesetzt. Frauen dürfen nur noch von Frauen unterrichtet werden – falls weibliche Lehrkräfte fehlen, findet kein Unterricht statt. Je nach Hochschule kommen strenge Auflagen im Bereich der baulichen Trennung hinzu: Männer und Frauen dürfen sich teilweise nicht auf dem Campus begegnen. Den Anteil der Frauen, die ihr Studium aufgrund der Einschränkungen abgebrochen haben, schätzen wir auf 80 bis 90 Prozent.

„Afghanistan ist ein komplexes Land“

Dr. Christian Hülshörster

Religion statt Wissenschaft: Nach der Machtübernahme haben die Taliban die meisten Hochschulämter mit linientreuen Religionsgelehrten besetzt.

Der DAAD hat verschiedene Schutzprogramme für verfolgte afghanische Studierende sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eingerichtet. Wie sehen diese Programme aus?
Um Studierenden sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Ausreise zu erleichtern, haben wir 2021 die Kontaktstelle Afghanistan eingerichtet. In engem Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt (AA), hat die Kontaktstelle Hilfsersuche bearbeitet, die über die deutschen Hochschulen an uns herangetragen wurden. Dank der hervorragenden Zusammenarbeit mit dem AA konnte eine Einreisegrundlage für zahlreiche Angestellte der Mitgliedshochschulen des DAAD sowie seine Kooperationspartnerinnen und -partner in Aussicht gestellt werden. Zusätzlich wurde vor einem Jahr das Hilde Domin-Programm für gefährdete Studierende eingerichtet. Von 135 Geförderten kommen derzeit 74 aus Afghanistan. Das war eine echte Herausforderung für das Programm, das eigentlich für individuell Verfolgte und nicht für systemische Krisen konzipiert ist. Darüber hinaus haben wir viele Fälle für andere Stipendiengeber mitbetreut, etwa für renommierte Hochschulen aus den USA. Über Brückenstipendien konnten Geförderte nach Deutschland geholt werden, um von hier aus Visa für Länder wie die Vereinigten Staaten zu beantragen.

Gibt es auch einen Lichtblick für die Wissenschaft in Afghanistan?
Was wir in den vergangenen Jahrzehnten geschaffen haben und worauf ich besonders stolz bin, ist die wissenschaftliche Ausbildung der Menschen. Die Taliban mögen die Universitäten vor Ort verkommen lassen, das Wissen in den Köpfen wird bleiben.

Interview: Johannes Kaufmann (15. November 2022)

Zur Person

Dr. Christian Hülshörster schloss seine Promotion in Germanistik an der Universität Münster 1998 ab. Von 1998 bis 2001 war er DAAD-Lektor und Leiter des DAAD-Informationszentrums Bangkok. Später leitete er die DAAD-Außenstelle Kairo, bevor er nach Deutschland zurückkehrte, um zunächst als Referatsleiter im Hochschulmarketing, ab 2015 als Bereichsleiter „Stipendienprogramme Süd“ beim DAAD in Bonn zu arbeiten. Er ist Reserveoffizier der Bundeswehr mit dem Arbeitsschwerpunkt „Foreign Area Specialist Middle East“.