Ukrainer unter 30 galten vor Putins Invasion als besonders optimistisch und eher passiv. Nun finden sie sich im Kampf und im Exil wieder – und die letzten Monate haben Spuren hinterlassen.
Am Denkmal für die Helden des Euromaidan in Lwiw scheint der Krieg an diesem milden Märzabend weit weg. Hunderte spazieren über die 2019 eröffnete Aussichtsplattform, die einen ungestörten Blick auf die prächtige Altstadt bietet, picknicken und plaudern. Die Menschen reden ukrainisch und russisch, wobei die grosse Zahl junger Erwachsener und Jugendlicher auffällt: Sie haben sich die Gedenkstätte angeeignet, sitzen im Kreis, hören Musik, schiessen Selfies.
Doch die Idylle täuscht. Viele sind Evakuierte aus den östlichen Kriegsregionen. «Meine Wohnung in Tschernihiw ist zerstört, ich habe keine Ahnung, wo ich in Zukunft leben werde», erzählt Dmitro Murawka regungslos, während er mit seiner Freundin vor dem Sonnenuntergang posiert. Neben Porträts der 2014 von ukrainischen Sicherheitskräften Getöteten sitzen die beiden Studentinnen Maria Risman und Diana Woroschilina. Sie stammen aus Mariupol und Selenskis Heimatstadt Kriwi Rih, ihre männlichen Verwandten kämpfen. Kontakt zu ihnen haben sie nur punktuell, das Schicksal vieler Familienmitglieder ist ungewiss.
Für die jungen Ukrainerinnen und Ukrainer ist die Ungewissheit ein fester Teil des Alltags geworden. Sie wurden am 24. Februar über Nacht aus ihrem Leben gerissen, genauso wie all ihre Landsleute. Doch gerade für die Studenten hatte das Frühjahr 2022 etwas Normalität versprochen, da die Unis nach der Pandemie – und unmittelbar vor der Invasion – wieder weitgehend zum Präsenzbetrieb übergingen. «Ich kam im Herbst aus Dnipro nach Kiew zum Studium», erzählt der 18-jährige Alexander Kosika, der Event-Manager werden und in einer Band Gitarre spielen will. «Zuerst kam Corona, dann der Krieg und die Evakuierung.» Nun produziert er seine Musik wieder allein, den Vorlesungen folgt er auf Zoom.
Konfliktfrei ist Kosikas von Soziologen als «Generation Unabhängigkeit» bezeichnete Altersgruppe zwar nicht aufgewachsen. Für die 18- bis 29-Jährigen stellten die proeuropäischen Demonstrationen und die Gewalt auf dem Maidan 2014 die ersten politischen Erinnerungen dar. Seither löste sich die Ukraine vom postsowjetischen Mief und aus Moskaus Orbit – zum Preis des Verlusts der Krim und einer russischen Aggression, die nach dem Donbass nun das ganze Land verheert.
Dennoch präsentierte sich die «Generation Unabhängigkeit» bis zur Invasion als toleranteste, optimistischste und weltoffenste seit der Unabhängigkeit 1991. Doch während zahlreiche ältere Angehörige dieser Kohorte die Öffnung nach Westen und die erleichterte Einreise nach Europa in den letzten Jahren für Studien, Reisen und Arbeitsaufenthalte im Ausland nutzten, finden sich die Jüngeren zu Beginn ihres Erwachsenenlebens nun an den Frontlinien und als Vertriebene wieder.
Die Erfahrungen haben die Mentalitäten stark verändert. Vor dem Krieg galt die «Generation Unabhängigkeit» noch als eher hedonistisch und skeptisch gegenüber gesellschaftlichem Engagement: 2017 gaben ihre Mitglieder in einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung gar häufiger als die russischen Altersgenossen an, ein solches zu vermeiden.
Ein bedeutender Grund waren das Misstrauen gegenüber Politikern und die grassierende Korruption, die auch zu einer erheblichen Desillusionierung über die Demokratie führte. Für jene Jungen, die 2019 erstmals wählen konnten, war die Kampagne von Selenski aber ein Wendepunkt: Sie stimmten mit klarer Mehrheit für den Komödianten, wobei der Glaube an demokratische Werte eine massgebliche Entscheidungsgrundlage war. Kosika und sein Kollege Alexander Masur haben seither zwar festgestellt, dass die Korruption nicht verschwunden ist. «Aber Selenski ist der beste Präsident, den wir je hatten.»
Dieser hat es auch verstanden, die «Generation Unabhängigkeit» besonders stark gegen die Aggressoren zu mobilisieren. Noch im Dezember glaubte weniger als die Hälfte der 18- bis 29-Jährigen, dass sich die Ukrainer gegen eine Invasion verteidigen würden. Wie das Kiewer Internationale Institut für Soziologie ausführt, war dies der tiefste Anteil aller Altersgruppen unter 70 Jahren. Anfang März zeigte sich ein völlig anderes Bild: Nun waren die Jungen laut dem Umfrageinstitut Rejting mit Abstand am häufigsten dazu bereit, ihr Land zu unterstützen – mit humanitärer Hilfe, Geld oder als Soldaten.
Die Bereitschaft zum Engagement zeigt sich in zahllosen Hilfsprojekten und darin, dass die Streitkräfte unter den vielen Kampfwilligen bis jetzt nur jene einziehen, die bereits über eine abgeschlossene militärische Ausbildung verfügen; es fehlt an Ausrüstung und schweren Waffen, nicht an Soldaten.
Auch Alexander Kosika wollte gleich zu Kriegsbeginn in die Landwehr einrücken. Sein älterer Bruder, der an der Front kämpfe, habe ihn aber davon abgehalten. «Er sagte, ich sei ohne militärische Erfahrung nur Kanonenfutter für die Russen.» Für die angehenden Fernsehjournalistinnen Risman und Woroschilina passt der Dienst in der Armee hingegen nicht zu den eigenen Vorstellungen über Geschlechterrollen, obschon ihn Zehntausende ihrer Altersgenossinnen absolvieren: «Als Frau kann ich nicht kämpfen», sagt Woroschilina und lacht diese für sie offenkundig absurde Idee weg.
Bevor sie weiter darauf eingehen kann, zerstören Sirenen die friedliche Abendstimmung. Sonderlich beeindruckt sind die beiden Ukrainerinnen davon allerdings nicht: Während wir zum nächsten Luftschutzbunker eilen, bleiben sie ruhig sitzen und nutzen das letzte Tageslicht für ein paar Selbstporträts.
Masur und Kosika haben die Erfahrungen während ihrer Evakuierung aus Kiew sichtlich stärker gezeichnet. Als sie auf den Zug gewartet hätten, habe gleich neben dem Bahnhof eine Rakete eingeschlagen. «Früher habe ich mich immer gefreut, wenn ein Automotor laut knallte», erzählt Kosika. «Jetzt weiss ich, dass ein Gewehr genau gleich tönt, und das ist beängstigend.»
Seit den Begegnungen in Lwiw und der Befreiung der Hauptstadt sind viele der Studenten wieder nach Kiew zurückgekehrt. Während etwa die Universität von Charkiw durch Bomben schwer beschädigt wurde, leiden die Kiewer Bildungsinstitutionen «nur» an akutem Personalmangel und wissen von vielen ihrer Studierenden nicht, wo sie sich befinden.
Dass diese andere Prioritäten haben und die grosse Unsicherheit Spuren hinterlassen hat, zeigt auch der Versuch des NZZ-Korrespondenten, im Mai erneut Kontakt aufzunehmen: Von allen Gesprächspartnern meldet sich nur Dmitro Murawka zurück. Zunächst will er erzählen, wie es ihm und seiner Familie ergangen ist. Dann zieht er die Zusage plötzlich zurück. «Es ist mir zu persönlich», erklärt der 20-jährige Musikstudent. Bestätigen will er nur, dass er gesund ist und sich in Kiew befindet.