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PolitikAsien

Iran: Der Zorn der Studierenden

7. November 2022

Die Proteste im Iran finden auch an den Universitäten des Landes statt. Diese waren in der islamischen Republik seit jeher Zentren des Widerstands. Die jüngsten Proteste spiegeln die Erfahrungen früherer Generationen.

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Anhaltender Protest im Iran
Protestversammlung iranischer Studentinnen Bild: SalamPix/abaca/picture alliance

Die Videos zeigen die immergleichen Szenen: Iranische Studentinnen und Studenten auf dem Campus der Universitäten, beim gemeinsamen Essen, oft außerhalb der Mensen. Letztere wurden geschlossen, nachdem Studenten die Trennwände zwischen Männern und Frauen an manchen Universitäten eingerissen hatten. So bringen sie ihre Mahlzeiten mit und essen davor - weniger, um den Hunger zu stillen denn als Akt des Widerstands. Inzwischen dokumentieren die Videos nicht nur Protest, sondern auch Solidarität. In vielen Videos erinnern die Demonstranten mit Plakaten in der Hand auch an verhaftete Kommilitoninnen und Kommilitonen. Medienberichten zufolge wurden bis zu dreihundert Studenten festgenommen.

Iran Teheran | Studenten Protest in der Alzahra Universität
Sitzstreik von Studierenden der Alzahra-Universität in Teheran Bild: UGC

Einschüchtern lassen sich die Demonstranten durch das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte offenbar nicht. "Ein Student kann sterben, aber er wird die Demütigung nicht akzeptieren", skandierten Demonstranten an der Shahid-Chamran-Universität von Ahvaz in der südwestlichen Provinz Chusestan in einem von AFP überprüften Online-Video des oppositionellen Medienkanals "1500tasvir".

Solidarität mit den Schülern

Verbunden zeigen sich die Studentinnen und Studenten ebenso mit der jüngeren Generation, den Schülerinnen und Schülern des Landes. Auch diese sind im Protest aktiv, und auch sie zahlen dafür einen Preis. So wurden am vergangenen Montag Aktivisten zufolge Schülerinnen der Schahid-Sadr-Mädchenberufsschule in Teheran geschlagen. "Schülerinnen des Sadr-Gymnasiums in Teheran wurden angegriffen, einer Leibesvisitation unterzogen und verprügelt", berichtete "1500tasvir".

Studentinnen und Studenten der Sharif-Universität sitzen gemeinsam im Freien
Studentinnen und Studenten der Sharif-Universität in Teheran machen gemeinsam Pause im FreienBild: NNSRoj

Gerüchten, eine Schülerin sei bei den Auseinandersetzungen ums Leben gekommen, trat das iranische Bildungsministerium entschieden entgegen. "Der Tod einer Schülerin bei dieser Konfrontation wird entschieden bestritten", zitiert die iranische Nachrichtenagentur ISNA einen Sprecher des Ministeriums.

Misstrauen Chomeinis

Seit Beginn der islamischen Revolution im Jahr 1979 sahen sich die Studenten dem Druck der Geistlichen ausgesetzt. Zwar standen beim Sturz des Schahs Teile der Studentenschaft, so etwa die islamistisch oder sozialistisch motivierten, zunächst an der Seite des Revolutionsführers Chomeini,  auf den sie ihre Hoffnungen gründeten. Doch kaum war das neue Regime etabliert, entfremdeten sich die beiden Seiten. Die Studenten nahmen zur Kenntnis, dass unliebsame Kommilitonen von den Sicherheitskräften des Regimes entführt oder getötet wurden. Beide Seiten gingen zueinander auf Distanz, so sehr, dass der Revolutionsrat im Juni 1980 sämtliche Universitäten des Landes schließen ließ.

Iran, Teheran | Demonstration vor der US-Botschaft
Traditionelle anti-amerikanische Rhetorik (hier Präsident Raisi am 43. Jahrestag der Besetzung der US-Botschaft) wird die Wut der Iraner kaum ablenken. Bild: Atta Kenare/AFP/Getty Images

Der Beschluss entsprach dem Misstrauen, das Chomeini den Studenten und Professoren entgegenbrachte.  "Wir haben keine Angst vor militärischen Angriffen, wir haben Angst vor kolonialen Universitäten", umriss er damals seinen Standpunkt. Das Regime betrachtete die Universitäten damals als Heimstatt der Volksmudschahedin, von denen damals der größte Widerstand zum Regime ausging. Chomeinis Anhänger "räumten aus Bibliotheken Tausende Bücher mit 'antiislamischer Tendenz' hinweg, verjagten Tausende Lehrer und Professoren als ‚Lakaien westlicher Ideologie‘ aus ihren Ämtern", schreibt der Publizist Gerhard Schweizer in seinem Buch "Iran verstehen". Führende Universitäten blieben über Jahre geschlossen.

Die Folgen von Chomeinis Aufruf waren enorm, sagt der Politikwissenschaftler und Exil-Iraner Mehdi Jafari Gorzini im Gespräch mit der DW. "Tausende Studenten wurden zwangsexmatrikuliert. Einige flüchteten ins Ausland, andere wurden verhaftet und hingerichtet. Chomeini strebte nichts anderes als eine Art 'Säuberung' der Universitäten an. Im Grunde war das nichts anderes als eine Kulturrevolution."

Akademischer Wiederaufbau

Nach der Wiedereröffnung wurde die Universitätslandschaft konsequent ausgebaut und modernisiert, mit der Folge, dass diese heute 4,07 Millionen Studierende verzeichnen, wie der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) in einer Studie schreibt. Die Modernisierung zeigt sich auch in der Gleichbehandlung der Geschlechter: Heute liegt der Anteil der weiblichen Studenten landesweit bei über 50 Prozent. Zudem könnten alle Studenten auf ein System rechnen, das auf akademische Qualitätssicherung und -steigerung setze, so der DAAD. Zu dieser Entwicklung beigetragen hätten auch zahlreiche iranische Wissenschaftler, die im - vor allem westlichen - Ausland ausgebildet wurden.

Durch den Einzug liberaler Ideen wurden die Universitäten abermals zu Zentren der Opposition. Das zeigte sich etwa im Juli 1999. Damals beschloss die Regierung, die reformorientierte Zeitung "Salam" zu schließen. Studenten der Universität Teheran gingen dagegen auf die Straße. Daraufhin durchkämmten Sicherheitskräfte die Wohnheime auf dem Campus, mindestens ein Student wurde getötet, Hunderte wurden verletzt. Die Proteste verwandelten sich bald in eine breitere Bewegung, die von der Regierung Rechenschaft forderte. Die Erinnerung an die damalige Brutalität der Sicherheitskräfte sei im studentischen Milieu bis heute in Erinnerung, so Jafari Gorzini.

Auf den liberalen Geist weiter Teile der Professorinnen und Professoren können die Studenten auch heute rechnen. Ende September veröffentlichten gut 70 Professoren der Universität Teheran in der Zeitung "Etemad" einen offenen Brief an die Regierung. Darin schilderten sie in aller Deutlichkeit die politischen und wirtschaftlichen Missstände des Landes, zudem forderten sie die Freilassung aller Demonstranten. In den folgenden Tagen formulierten die Lehrkörper anderer Universitäten vergleichbare Briefe. Damit weitete sich jedoch auch der Riss innerhalb der Universitäten: Deren oberste Positionen sind jeweils mit Vertrauensleuten des Regimes besetzt.

Iran Universität Stundentinnen
Studentinnen an der Universität von Teheran im Jahr 2015 Bild: Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance

Jenseits ihrer guten Ausbildung seien die Studentinnen und Studenten auch dank der neuen Medien bestens mit der Welt vertraut, sagt Jafari Gorzini. "Spätestens seit den frühen 2000er betrieben viele junge Menschen - und eben auch Studenten - eine eigene Homepage oder ein Blog und standen darüber auch in Kommunikation mit dem Ausland. Das hat ihnen gezeigt, welche Lebensformen es jenseits der Grenzen gibt und ihnen zugleich andere Lebenskonzepte als das vermittelt, das das Regime verbreitet."

Ende der Geduld

Hinzu komme, dass die Menschen wiederholt versucht hätten, das System abzuwählen, so Jafari Gorzini weiter. "Das hat aber nie geklappt, genauso wenig, wie der Versuch, Reformen anzustoßen. Das hat auch die jüngste Generation verstanden." Ihnen sei von ihren Eltern die Geschichten der gescheiterten Reformversuche, der Demonstrationen und großen Proteste erzählt worden. "Dieser Generation ist klar, dass alles Bisherige vergeblich war, dass sich mit den Mullahs kein Dialog führen lässt. Daher die Radikalität, die wir gerade erleben."

 

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika