«Das Einzige, was Putin geschafft hat, war, die Wirtschaft der armen Länder zu ruinieren.» Wie sich der Ukraine-Krieg in 5000 Kilometer Entfernung in Ostafrika auswirkt

In vielen Ländern sind wegen des Ukraine-Kriegs Dünger- und Weizenpreise gestiegen. Am härtesten sind die Folgen ausserhalb von Europa. Ein Besuch auf dem Feld und im Armenviertel in Kenya.

Samuel Misteli, Emali und Nairobi
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Erst der Anfang? Protest gegen hohe Lebensmittelpreise im Mai in Kenyas Hauptstadt Nairobi.

Erst der Anfang? Protest gegen hohe Lebensmittelpreise im Mai in Kenyas Hauptstadt Nairobi.

Daniel Irungu / EPA

Auf dem Land beugt sich der Bauer, den sie im Dorf respektvoll den «Major» nennen, über eine Maisstaude und sagt: «Hätte ich Dünger benützt, wäre sie jetzt einen Meter gross.» Doch wie fast alle Bauern hier hat der Major diesmal auf Dünger verzichtet, denn der Preis ist viel zu hoch. Seit 5000 Kilometer weiter nördlich Krieg herrscht, steigt der Düngerpreis noch viel schneller als zuvor. Die Maisstaude ist zwei Wochen alt und 30 Zentimeter hoch.

In der Stadt beugt sich der 18-jährige Chapati-Verkäufer, der nach Nairobi gekommen ist, um das Glück zu suchen, über einen Bottich und knetet einen Klumpen Teig zurecht. Er sagt: «Manchmal, wenn die Kunden sehen, wie klein die Fladen nun sind, sagen sie: ‹Für so was bezahle ich nicht.› Dann laufen sie davon.» Seit in der Ukraine Krieg herrscht, steigt der Mehlpreis noch viel schneller als zuvor. Dafür sind die Brote und der Lohn des Verkäufers geschrumpft. 3 Franken 30 pro Tag erhält er noch, halb so viel wie zuvor.

Die wirtschaftlichen Folgen des Ukraine-Kriegs treffen die Menschen am härtesten in armen Gegenden ausserhalb von Europa – im Nahen Osten, in Asien, in Afrika. Am Freitag ist Macky Sall, der Präsident der Afrikanischen Union, nach Russland gereist, um mit Wladimir Putin über die Blockade der ukrainischen Häfen zu sprechen. Sall sagte, Putin sollte sich bewusst sein, «dass unsere Länder, obwohl weit vom Schauplatz entfernt, wirtschaftliche Opfer des Konflikts sind».

Zum Beispiel Kenya, ein Land mit 55 Millionen Einwohnern und über 20 Millionen Bauern, das einen Fünftel seines Düngers aus Russland und einen Drittel seines Weizens aus der Ukraine und Russland importiert.

Doch es geht um mehr als Import. Denn ob aus Russland eingeführt, von anderswo oder im Land selber produziert: Alles wird in Kenya und andernorts in Afrika gerade teurer, der Dünger, das Mehl, das Speiseöl, das Benzin. Und das trifft jene am härtesten, die keine Reserven haben. Der durchschnittliche Kenyaner gab schon vor der Krise fast die Hälfte seines Einkommens für Essen aus.

«Krieg in der Ukraine bedeutet Hunger in Afrika», sagte Kristalina Georgiewa, die Chefin des Internationalen Währungsfonds, im März. Die britische NGO Oxfam glaubt, dass der Ukraine-Krieg 250 Millionen Menschen in die extreme Armut stossen könnte. Man fände sie zum Beispiel auf den Feldern und in den Gassen Kenyas.

Der Bauer, den sie Major nennen, heisst eigentlich Daniel Mwania. Er ist 72, älter und wohlhabender als die meisten Bauern in der Gegend von Emali, drei Autostunden südöstlich von Nairobi. Mwania besitzt 14 Hektaren Land, das ist die Fläche von 20 Fussballfeldern. Der durchschnittliche Bauer in der Gegend besitzt ein Fünftel davon.

Doch als Mwania Anfang April in den Läden nach dem Düngerpreis fragte, klang das selbst für ihn nicht mehr bezahlbar. Der billigste 50-Kilo-Sack, den er fand, kostete umgerechnet 50 Franken. Mwania verzichtete.

Die Anbausaison in Emali beginnt im März. Doch diesmal war kurz zuvor ein Krieg in Europa ausgebrochen. Dieser trieb Preise noch einmal um 50 Prozent in die Höhe, die sich im Vergleich zum Vorjahr schon fast verdoppelt hatten.

Und deshalb stapft Daniel Mwania einige Wochen später über sein Land, auf das kurz zuvor ein Regenschauer gefallen ist, und bückt sich über Maisstauden, die einen Meter hoch sein könnten. Wäre der Düngerpreis bezahlbar.

Auch sonst ist vieles Konjunktiv. «Diese Mangobäume hätte ich düngen wollen», sagt Mwania und zeigt auf eine Gruppe von Bäumen. «Hier würde ich normalerweise Bohnen pflanzen», sagt er und zeigt mit der Hand auf eine von vielen brachen Flächen.

Normalerweise würde Mwania im Frühjahr 20 Düngersäcke à 50 Kilo kaufen. Er würde auf der Hälfte seines Landes Mais anbauen. Nun hat er auf einem Zehntel gepflanzt.

Normalerweise würden allein seine Mango- und Mandarinenbäume über 8000 Franken im Jahr abwerfen. Aber weil es keine normalen Zeiten sind, rechnet Mwania damit, nur schon beim Mais mehr als 4000 Franken einzubüssen.

Es gibt ihn nun im Offenverkauf: Der teure Dünger.

Es gibt ihn nun im Offenverkauf: Der teure Dünger.

Samuel Misteli
Daniel Mwania vor dem Landwirtschaftsladen.

Daniel Mwania vor dem Landwirtschaftsladen.

Samuel Misteli

Zurück in die Armut?

Major Mwania erleidet Verluste auf hohem Niveau. Er wird sie zunächst einmal verkraften. Anders sieht es aus für Tausende von Kleinbauern in der Region. Dank Dünger bringen ihre Felder sonst einen Überschuss an Mais, Tomaten und Melonen hervor, den die Bauern verkaufen. Fällt der Überschuss weg, werden viele von ihnen wieder zu Subsistenzbauern.

Laut Schätzungen könnte Kenyas Maisernte in diesem Jahr halb so gross ausfallen wie sonst. Das heisst auch: Wenn das Angebot schrumpft, steigen die Preise für die kenyanische Bevölkerung weiter.

Major Mwania hat viele Jahrzehnte in dieser Gegend gelebt, deren Erde eigentlich fruchtbar ist und im Mai sattgrün vom Regen. Mwania hat gesehen, wie die Bauern produktiver wurden, dank Bewässerungstechnik und Dünger. Er hat gesehen, wie der Horizont weiter wurde, die Bauern ihr Gemüse nach Nairobi und Mombasa verkauften, in die grossen Städte. Er hat gesehen, wie die Bevölkerung wuchs, die Felder sie aber ernähren konnten, weil diese mehr hergaben.

Und dann sah Mwania, wie die Covid-Pandemie alles verlangsamte oder stoppte. Wie Hunderte aus der Stadt zurück aufs Land zogen, weil sie ihre Arbeit verloren. Wie die Preise zu steigen begannen, weil die Landesgrenzen geschlossen waren und die globale Logistik im Chaos. Und wie schliesslich ein Krieg ausbrach, 5000 Kilometer entfernt, unmittelbar vor der Anbausaison. Der Internationale Währungsfonds spricht von «zwei Krisen übereinander».

Major Mwania macht sich derweil Sorgen, dass der Horizont wieder enger wird. «Kaum ein Bauer konnte Dünger kaufen», sagt er. Manche haben gar nicht gepflanzt, sie warten auf die nächste Anbauperiode im November. Die Bauern würden vorerst genügend Nahrung für den eigenen Magen produzieren, sagt Mwania. «Doch wenn die Preise nicht sinken, landen wir wieder in der Armut.»

Die Regierung hat eigentlich versprochen, den Dünger zu verbilligen. Doch im Landwirtschaftsladen in Emali gibt es keinen verbilligten Dünger. Es gibt einen resignierten Verkäufer, der sagt, er verkaufe nun offen statt ganze Säcke. An diesem Tag hat er 14 Kilo Dünger verkauft, in normalen Zeiten wären es 500.

Das «Hilton Ndogo» muss sparen

Dort, wo die Leute bereits arm sind, treffen die zwei Krisen die Menschen noch viel härter. Zum Beispiel in den Gassen von Mathare, wo der 18-jährige Tekei Shaban sich über den Bottich bückt und einen Teigklumpen knetet. Mathare ist eines der ärmsten Viertel in Nairobi, einer Stadt mit 5 Millionen Menschen und vielen armen Vierteln. Der Laden, vor dem Shaban steht, heisst «Hilton Ndogo Hotel», was recht hochgestapelt ist, weil das «Hilton Ndogo» eine Hütte ist, die zwischen den vielstöckigen Wohnblöcken in der Gasse winzig wirkt.

«Früher genügte ein Chapati, damit ein Kind satt wurde», sagt Shaban. «Doch seit wir die Brote verkleinert haben, kriegen die Kinder nicht mehr genug.» Neben Shaban steht sein Kollege unter einem Sonnenschirm und wirft Teigfladen auf einen Kohleherd. Dampf steigt auf unter dem Schirm, es riecht nach verbranntem Öl.

Andere Läden haben den Preis für die Chapatis erhöht, weil der Mehlpreis immer weiter steigt. Hier kosten die Fladen noch immer 8 Rappen, doch das «Hilton Ndogo» bäckt nun buchstäblich kleinere Brötchen – zum Ärger vieler Kunden.

Wie alle Kenyaner, die rechnen müssen, weil sie nicht zur dünnen Oberschicht gehören, kann Tekei Shaban präzise benennen, wie die Preise in den letzten Monaten gestiegen sind:

10 Liter des billigsten Speiseöls von 800 auf 2700 Shilling, das heisst von 6 Franken 50 auf 22 Franken.

Der 100-Kilo-Sack Kohle von 8 auf 25 Franken.

Der 2-Kilo-Sack Mehl von 1 Franken auf 1 Franken 30.

Im März hat der Nahrungsmittelpreisindex der Uno-Landwirtschaftsorganisation FAO ein Allzeithoch erreicht. Im «Hilton Ndogo» verkneteten sie einst täglich 60 Mehlsäcke. Nun sind es weniger als 20. Und das heisst auch: Zwei Drittel der Einnahmen fehlen.

Deshalb arbeiten noch zwei statt vier Personen vor der Hütte. Und Shaban erhält noch 3 Franken 30 Lohn pro Tag, halb so viel wie zuvor. Eigentlich hat die Regierung Anfang Mai den Mindestlohn unter Getöse auf 4 Franken pro Tag erhöht, als Massnahme gegen die Krise. Doch das kümmert keinen Arbeitgeber, der sein Geschäft über die Runden bringen muss. Und Tekei Shaban sagt: «Ich bin froh, überhaupt einen Lohn zu haben.»

Manchmal laufen empörte Kunden davon: Tekei Shaban vor dem Hilton Ndogo.

Manchmal laufen empörte Kunden davon: Tekei Shaban vor dem Hilton Ndogo.

Samuel Misteli

Mit dem Lohn, den er noch erhält, rechnet er. 37 Franken im Monat bezahlt er für seine Einzimmerwohnung. Bleiben ihm knapp 60 Franken für alles andere, was vor allem heisst: für Essen. Er sagt, es sei schwierig geworden, sich ausgewogen zu ernähren. Er verzichtet auf das Ei am Morgen und die Milch am Abend, meist ist es nun Chapati und Tee. Und auch so bleibt am Ende des Monats kaum etwas übrig. Vor allem in jenen Monaten nicht, in denen Shaban von Polizisten gestoppt wird, die auch wenig verdienen und ihm unter einem Vorwand Geld abknöpfen. Manchmal sind es 8 Franken, manchmal das Doppelte. Also beinahe ein Wochenlohn.

Wachsen die Proteste?

Shaban hat den Teig inzwischen zu einer glatten Kugel geformt. Er trägt den Bottich hinüber zu seinem Kollegen, kippt die Kugel neben diesem auf einen Tisch.

«Ich bin nach Nairobi gekommen, um für meine Zukunft zu kämpfen», sagt Shaban. Das war vor fünf Jahren, als seine Mutter starb, er kam aus Kenyas Westen. Eigentlich spart er, um eine Ausbildung als Mechaniker absolvieren zu können. Vier Semester dauert sie, 20 000 Shilling Studiengebühren kostet sie, 165 Franken. Doch gerade ist er weit davon entfernt.

Und nicht nur er. Drinnen im «Hilton Ndogo», hinter einem Spitzenvorhang, sitzen ein paar Kunden, die dem Laden trotz den geschrumpften Broten die Treue halten. Ein Mann, selber auch Chapati-Bäcker, sagt, er esse noch zweimal am Tag statt dreimal. Eine Frau, die in ihrem Laden die teuer gewordenen Lebensmittel verkauft, sagt, die Leute würden alles rationieren. Sie ernähre sich von Reis, Mehl und Zucker aus dem eigenen Bestand, weil sie kaum noch verkaufe.

Doch Mathare ist nicht am Ende der Nahrungskette. Im Norden Kenyas herrscht Dürre, eineinhalb Millionen Tiere sind verendet, dreieinhalb Millionen Menschen droht Hunger. Und Hilfsorganisationen müssen wie das «Hilton Ndogo» die Rationen verkleinern, weil die Lebensmittel auch für sie teuer geworden sind.

Wo führt das hin? Anfang April wurde ein einsamer Demonstrant vor dem Finanzministerium in einen Polizeiwagen verfrachtet. Er rief: «Die Armen sterben, und die Regierung lässt uns im Stich!» Mitte Mai demonstrierten 300 Personen vor dem Parlamentsgebäude. Sie trugen Transparente, auf denen sie Lebensmittelpreise auflisteten.

Kenya hat keine grosse Protesttradition. Möglich, dass sich das ändert, wenn sich die Situation weiter verschärft. Möglich, dass die Proteste auch anderswo wachsen. Im Sudan stürzte der Diktator Omar al-Bashir 2019 unter anderem wegen dramatisch gestiegener Brotpreise.

Daniel Mwaina und seine kleinen Maisstauden.

Daniel Mwaina und seine kleinen Maisstauden.

Samuel Misteli

Der Major war im Krieg

Tatsächlich machen die Menschen in Kenya und anderswo in Afrika ihre eigenen Regierungen verantwortlich für den Anstieg der Preise. Kaum jemand spricht vom Ukraine-Krieg, von Sanktionen gegen Russland und von 25 Millionen Tonnen Weizen, die in ukrainischen Schwarzmeerhäfen blockiert sind.

Tekei Shaban, der Chapati-Verkäufer, sagt: «Ich weiss kaum etwas über den Krieg. Aber andere Länder hätten der Ukraine rechtzeitig helfen sollen. Dann würde es dem Rest der Welt jetzt nicht an allem fehlen – an Benzin, an Essen, sogar an Strom.»

Einer, der hingegen viel über den Krieg weiss, ist Daniel Mwania, der Bauer in Emali. Sie nennen ihn den Major, weil das sein Dienstgrad war in der Marine. Er diente ihr, bis er 1990 in sein Heimatdorf zurückkehrte, um eine Familie zu gründen und sein Land zu bestellen. Der Major hat Kriegsschiffe gesteuert und in den 1980er Jahren im Iran-Irak-Krieg eine Truppe von Uno-Blauhelmen kommandiert. Er sagt über den russischen Angriff auf die Ukraine: «Putin wird scheitern. Das Einzige, was er geschafft hat, ist, die Wirtschaft der armen Länder zu ruinieren.»