Vor wenigen Tagen gingen Bilder der Scharif-Universität in Teheran um die Welt. Nach dem Tod der 22-jährigen Kurdin Jina Amini hatten Studierende dort demonstriert, der Protest wurde von Sicherheitskräften gewaltsam niedergeschlagen. Reza Sharifi* ist Mitte 30 und Professor an einer Universität im Iran. Im Interview erklärt er, welche Rolle die Studierenden bei den Protesten spielen.

ZEIT Campus: Reza Sharifi, auf Videos sieht man vor allem junge Frauen und Männer, die gegen das Regime protestieren. Wie schätzen Sie als Professor die Rolle der Studierenden bei den Protesten ein?

Reza Sharifi: Die Proteste haben in den kurdischen Regionen begonnen und wurden zuerst von den Frauen dort getragen. Inzwischen sind Studierende zu einer treibenden Kraft geworden. Zu Beginn haben sie noch still protestiert. Meine Studierenden sind zum Beispiel zum Campus gekommen und haben sich in den Hof gesetzt, sind aber den Kursen ferngeblieben. Ich stand vor einem fast leeren Klassenraum, selbst als die Universität Druck gemacht und den Studierenden mit Ausschluss gedroht hat. Ich habe ein paar Studentinnen kontaktiert, denen ich nahestehe. Sie sagten mir, dass sie nicht kommen, sondern an den Protesten teilnehmen würden. Als dann die Studierenden an der Scharif-Universität begonnen haben zu demonstrieren, war das eine Zäsur.

ZEIT Campus: Inwiefern?

Sharifi: Die Scharif-Universität ist eine Eliteuniversität, das iranische MIT könnte man sagen. Viele der schlausten Köpfe des Irans studieren dort. Als dort einige Studierende begonnen haben zu demonstrieren, war das ein starkes Symbol. Studentinnen haben den Hidschab ausgezogen und haben Dinge gesungen wie "Tod dem Diktator" oder "Frauen, Leben, Freiheit". Dann wurden die Proteste brutal niedergeschlagen. Die Bilder gingen durch die sozialen Medien. 

ZEIT Campus: Und das hatte Auswirkungen? 

Sharifi: Am nächsten Tag gab es wieder Proteste an Universitäten im ganzen Land, woraufhin an den meisten Universitäten die Präsenzveranstaltungen abgesagt wurden. Seit einigen Tagen gehen sogar Schülerinnen und Schüler auf die Straße. Das ist sehr mutig. Zu Beginn gab es nur kleinere Proteste, oft nach Einbruch der Dunkelheit. Die Studierenden haben den Protest ans Tageslicht gebracht. Er ist sichtbarer geworden.

"Die Studierenden haben den Protest ans Tageslicht gebracht"
Reza Sharifi

ZEIT Campus: Hat Sie das Ausmaß der Proteste überrascht?

Sharifi: Ich dachte, das Regime würde die Proteste schnell entschärfen. Es hat in den vergangenen Jahren immer wieder Proteste gegeben, zuletzt im November 2019 wegen gestiegener Benzinpreise. Damals wurde drei Tage das Internet abgestellt, die Proteste mit Gewalt niedergeschlagen und dann waren sie vorbei. Aber dieses Mal ist es anders. Die Proteste sind extrem schnell gewachsen. Das habe ich erst richtig verstanden, als meine Studierenden in den sozialen Medien begonnen haben, offen ihre Meinung zu teilen. 

ZEIT Campus: Mit welchen Repressionen müssen die Studierenden rechnen, wenn sie festgenommen werden?

Sharifi: Wer festgenommen wird, muss mit körperlicher Bestrafung wie Prügel und Folter rechnen, mit langen Haftstrafen oder damit, zu falschen Geständnissen gezwungen zu werden. Besonders schlimm ist der Fall der 16-jährigen Schülerin Nika Shakarami. Sie war nach einer Demonstration zehn Tage lang vermisst gemeldet gewesen. Erst dann hat ihre Familie ihren Leichnam in einem Leichenschauhaus identifizieren können. Schließlich wurde sie ohne Zustimmung der Familie in einem abgelegenen Gebiet bestattet. Es gibt momentan sogar Gerüchte, dass sie nicht nur umgebracht, sondern vor ihrem Tod vergewaltigt wurde. Es heißt, Polizisten hätten verhindern wollen, dass sie als Jungfrau in den Himmel kommt, wie es islamische Fundamentalisten glauben. Ich denke, diesen Menschen ist alles zuzutrauen.

ZEIT Campus: Wissen Sie, wie es den Studierenden geht, die sich an den Protesten beteiligt haben?

Sharifi: Ich weiß, dass zwei Studentinnen aus meinem Kurs auf einer Demonstration festgenommen wurden. Sie wurden in einen Van gezerrt und dann mehrere Stunden in den Keller einer Moschee gesperrt. Ein paar Stunden später sind sie in eine Polizeistation gekommen. Der Onkel einer der beiden ist bei der Polizei. Sie hat das den Polizisten direkt nach der Festnahme gesagt und behauptet, nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. Sie ist jetzt frei. Von der anderen Studentin habe ich bislang nichts gehört. Sie ist wahrscheinlich noch in Haft.

ZEIT Campus: Sind denn auch viele männliche Studenten aktiv am Protest beteiligt?

Sharifi: Ich würde sagen, dass es etwa zur Hälfte Männer sind, die auf die Straße gehen. Allerdings verbreiten sich vor allem die Bilder der Frauen, die ihre Kopftücher abnehmen und protestieren. Mit den Frauenrechten haben die Proteste auch begonnen. Nie habe ich so große Solidarität von Männern beobachtet. Es hat mich gerührt, als ich gesehen habe, wie Frauen ihre Hidschabs verbrannt haben, und die Männer im Kreis herumstanden und geklatscht haben. 

"In der Studierendenschaft sind keinesfalls alle an den Protesten beteiligt"
Reza Sharifi

ZEIT Campus: Sie haben eben gesagt, die Proteste hätten mit Frauenrechten begonnen. Geht es mittlerweile um mehr? 

Sharifi: Viele verstehen nicht, wie fundamental wichtig der Hidschab für die islamische Republik ist. Ich habe beispielsweise noch nie die Haare meiner Großmutter gesehen. Wenn die Frauen also jetzt ihren Hidschab herunterreißen und ihn verbrennen, geht es um nicht weniger als die islamische Republik selbst. Es geht den Demonstrierenden darum, das theokratische Regime zu stürzen.

ZEIT Campus: Wie unterstützen Sie als Professor die Proteste?

Sharifi: Viele der Protestierenden klagen, dass nicht genug ältere Menschen die Proteste aktiv unterstützen. Ich habe schon öfter gehört: Wo sind unsere Väter? Wo sind unsere Professoren? Sie fühlen sich alleine gelassen. Ich schäme mich dafür, dass ich nicht mit ihnen auf der Straße stehe, aber ich traue mich nicht. Ich habe Angst um mein Leben, um das Leben meiner Familie und meinen Job. Aber ich versuche zu tun, was ich kann: Andere Professoren haben angekündigt, dass sie die Studierenden durchfallen lassen, wenn sie nicht in den Unterricht kommen. So etwas mache ich nicht. Ich versuche, ihnen ein wenig Freiraum zu schaffen. Ich teile in den sozialen Medien weiterhin anonym Informationen. Und ich spreche auch mit Ihnen als Journalist, weil ich die Proteste unterstützen will. 

ZEIT Campus: Was würde passieren, wenn herauskäme, dass Sie mit westlichen Medien gesprochen haben?

Sharifi: Ich müsste sicher in Haft und würde definitiv meinen Job verlieren. Vielleicht sogar noch mehr. Auf Landesverrat steht lebenslange Haft oder die Todesstrafe. Ich habe deswegen meine Frau angelogen, als sie gefragt hat, mit wem ich sprechen werde. Ich will nicht, dass sie davon weiß und als Mitwisserin womöglich selbst Probleme bekommt, falls etwas herauskommt.

ZEIT Campus: Sie heißen die Proteste gut. Denken viele Kollegen an der Universität wie Sie? 

Sharifi: Das ist schwierig zu sagen. Ich spreche nur mit wenigen offen darüber, nur wenn ich ihnen wirklich vertraue. Der Leiter meines Instituts ist zum Beispiel ziemlich sicher gegen die Proteste. Ich kenne ihn seit Jahren. Man darf nicht übersehen, dass sehr viele Menschen das Regime stützen. Auch in der Studierendenschaft sind keinesfalls alle an den Protesten beteiligt. An jeder Universität gibt es ein Büro der Basidsch-Miliz und viele Studenten sind dort Mitglieder. An der Scharif-Universität waren sie zum Beispiel in der ersten Reihe, um die Proteste niederzuschlagen. 

ZEIT Campus: Wie glauben Sie, wird es in den nächsten Wochen mit den Protesten weitergehen?

Sharifi: Ich bin jetzt schon vom Mut der jungen Menschen auf der Straße überwältigt. Es ist eine neue Generation, die diesen Protest nach vorn bringt. Sie wollen Freiheit. Und letztendlich wird der Erfolg davon abhängen, ob andere sie dabei unterstützen.

* Zum Schutz unseres Gesprächspartners haben wir seinen Namen geändert und wesentliche Informationen zu seiner Person ausgelassen.