Zerstörtes Gebäude der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Nationalen Wassyl-Karasin-Universität Charkiw im Nordosten der Ukraine.
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Universitäten unter Beschuss
Wie der Krieg ukrainische Hochschulen trifft

Der Krieg in der Ukraine hinterlässt Zerstörung und Tod, auch an den Unis. Zwischen Raketen- und Artilleriebeschuss sorgen sie sich um ihre Zukunft.

08.06.2022

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat die Hochschulen im Land schwer getroffen. Der Großteil der Institutsgebäude ist durch Artilleriegeschosse beschädigt, einige sind sogar soweit zerstört, dass sie nicht länger nutzbar sind, beschrieb Anatolij Sahorodnij am Mittwoch in einem Interview mit der "FAZ". Sahorodnij ist Präsident der ukrainischen Nationalakademie der Wissenschaften in Kiew. Die größten Schäden weisen ihm zufolge die Institute in Charkiw auf.

Mitglieder der ukrainischen Regierung sprachen laut Medienberichten Ende Mai von über 1.800 zerstörten Bildungseinrichtungen im Land seit Kriegsbeginn Ende Februar, darunter Hochschulen, Kindergärten und über 1.000 Schulen. Der Schaden belaufe sich auf rund fünf Milliarden Euro, berichtete das britische Onlinemagazin "Times Higher Education" (THE) mit Verweis auf Regierungsangaben. Inna Sowsun, Professorin an der Kiewer Wirtschaftshochschule sowie der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie und ehemalige stellvertretende Bildungsministerin, sprach Mitte Mai gegenüber THE von vier zerstörten Universitäten – in Luhansk, Donezk, Charkiw und Saporischschja – und 25 weiteren, die beschädigt seien. Charkiw, die Studentenhauptstadt der Ukraine, sei besonders hart getroffen worden, insbesondere die Nationale Wassyl-Karasin-Universität Charkiw.

Die Nationale Universität Donezk sei während des Krieges erfolgreich umgezogen, sagte Sowsun, aber andere ukrainische Hochschulen hätten nach einem ersten Umzug erneut weiterziehen müssen, da sich die Frontlinien verschoben hätten. Nach Sowsuns Ansicht müsse in Städten unter ukrainischer Kontrolle dennoch bereits mit dem Wiederaufbau begonnen werden. Konkrete Pläne zum Wiederaufbau der Hochschulen in der Ukraine gibt es laut Akademiepräsident Sahorodnij aber noch keine, derzeit stehe die militärische Verteidigung des Landes im Fokus.

Tote und Flüchtende von ukrainischen Hochschulen

Bisher haarscharf einer Katastrophe wie einst in Tschernobyl entgangen ist laut Sahorodnij das Kharkiv Institute of Physics and Technology, deren Nuklearanlage mehrfach bombardiert worden sei. Die Energiequelle der Einrichtung sei bei einem Raketenangriff zerstört worden, nukleares Material sei aber nicht freigesetzt worden. Zumindest in diesem Fall seien die Gebäude systematisch angegriffen worden. "Leider sind auch einige unserer Kollegen umgekommen", so Sahorodnij. An Universitäten und Akademien seien bislang zehn Professoren durch Artillerieangriffe oder russische Soldaten getötet worden.

Neben getöteten Menschen und zerstörten Gebäuden sorgte sich der Akademiepräsident auch um eine weitreichende Abwanderung vor allem junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Tausende seien bereits geflohen, entweder in westliche Landesteile in der Ukraine oder ins Ausland. Etwa zehn Prozent des wissenschaftlichen Personals der Ukraine sei zurzeit in Forschungseinrichtungen in Europa tätig. Dort versuchten sie soweit möglich, virtuell weiterzuarbeiten und ihre internationalen Forschungskooperationen weiterzuführen.

"Unsere Forscher haben jetzt natürlich vermehrt die Chance, mit europäischen Ländern Kontakte zu knüpfen, aber die Gefahr ist, dass es zu einer verstäkten Abwanderung hoch qualifizierter Forscher kommt. Natürlich hoffen wir, dass sie wieder zurückkommen", sagte Sahorodnij. Für die Ukraine sei es essenziell, junge Leute halten zu können. Unterstützungsangebote aus Europa für Forschende vor Ort nehme er daher dankbar an. Bereits Anfang März hatte Sahorodnij in der Zeitschrift "Nature" die internationale Wissenschafts-Community um Unterstützung gebeten, um den Akademikerinnen und Akademikern vor Ort in der Ukraine zu helfen und einen massiven Braindrain zu verhindern. Gespräche um entsprechende Programme laufen den Berichten zufolge zwischen verschiedenen Hochschulen und Akademien in der Ukraine und Europa.

ckr