Forschen im Ausnahmezustand: Wie es ukrainischen und russischen Wissenschaftern im Krieg ergeht

Bomben fallen auf ukrainische Universitäten, Forscherinnen und Studenten sind deshalb auf der Flucht. In der Schweiz erhalten sie nun Anstellungen. Russischen Wissenschaftern droht dagegen die zunehmende Isolation.

Martin Amrein 7 min
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In der ostukrainischen Stadt Charkiw steht das Gebäude der Wirtschaftsfakultät nach russischem Beschuss in Flammen. (2. März 2022)

In der ostukrainischen Stadt Charkiw steht das Gebäude der Wirtschaftsfakultät nach russischem Beschuss in Flammen. (2. März 2022)

Sergey Bobok / AFP

Am Tag, an dem die Russen in die Ukraine einmarschierten, stand für die Studierenden der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew eine Vorlesung in Handelstechnologie an. «Uns blieb nichts anderes übrig, als auf Online-Betrieb umzustellen», erzählt Tetiana Murovana, Professorin an der Wirtschaftsfakultät der Universität. «So konnte ich die Vorlesung abhalten.» Eine Woche lang liefen die Uni-Veranstaltungen noch über das Internet weiter. «Danach war auch das nicht mehr möglich», sagt Murovana. «Wir mussten uns in den Kellern oder den Gängen unserer Wohnungen vor den Bombenangriffen schützen.»

Tetiana Murovana ist seit kurzem Gastprofessorin an der ETH Lausanne.

Tetiana Murovana ist seit kurzem Gastprofessorin an der ETH Lausanne.

Mittlerweile ist die Ökonomin in der Schweiz. Sie ist eine von drei geflüchteten Forscherinnen und Forschern aus der Ukraine, die eine temporäre Anstellung an der ETH Lausanne erhalten. In der ganzen Schweiz haben schon mehr als 50 ukrainische Wissenschafter eine solche Stelle bekommen oder stehen kurz davor, wie eine Umfrage der «NZZ am Sonntag» unter Schweizer Hochschulen ergeben hat.

Möglich wurde dies auch dank der Initiative «Science for Ukraine», die Sanita Reinsone, eine Wissenschafterin aus Lettland, kurz nach Kriegsbeginn ins Leben gerufen hatte. Die Initiative begann mit dem Twitter-Hashtag #ScienceForUkraine, der nützliche Informationen für ukrainische Forscherinnen und Studenten verbreiten sollte. Die Resonanz war so überwältigend, dass bald eine Website nötig wurde, um die Hilfsangebote aus aller Welt zu bündeln: Auf einer interaktiven Weltkarte voller Stecknadeln sind mittlerweile mehr als 1700 Jobmöglichkeiten in verschiedensten Disziplinen aufrufbar. Sie stammen von Forschungsgruppen aus Europa, den USA, Brasilien, Südafrika, Israel oder China.

Auch Murovana suchte dort nach möglichen Stellen. Sie wollte ins Ausland, um ihren achtjährigen Sohn in Sicherheit zu bringen. «Es war der schwierigste Entscheid meines Lebens», sagt sie. Ihre Mutter und ihr betagter Grossvater blieben in der Ukraine, während die junge Professorin über Polen nach Deutschland floh und gleichzeitig Bewerbungen an verschiedene Universitäten in Europa verschickte.

Nach einem Online-Jobinterview klappte es mit der Anstellung als Gastprofessorin am College für Technologiemanagement an der ETH Lausanne. Dort untersucht Murovana in einem Projekt mit dem Innovationsökonomen Gaétan de Rassenfosse, wie es ukrainischen Forscherinnen und Forschern in den Zeiten des Krieges ergeht. Ihre Stelle ist vorerst für drei Monate gesichert, für ihren Sohn hat die Hochschule einen Platz in einer Schule organisiert.

Koordinatoren in mehr als 30 Ländern

Der Ukrainer Maksym Andriushchenko ist schon seit 2019 an der ETH Lausanne tätig. Als Doktorand beschäftigt er sich mit theoretischen Fragen zu Machine Learning. Auch er hat vor einigen Wochen eine neue Aufgabe übernommen: Er ist einer der beiden Koordinatoren von «Science for Ukraine» für die Schweiz.

Maksym Andriushchenko doktoriert seit 2019 an der ETH Lausanne.

Maksym Andriushchenko doktoriert seit 2019 an der ETH Lausanne.

Solche Koordinatoren gibt es bereits in mehr als 30 Ländern weltweit. Sie behandeln Anfragen von ukrainischen Wissenschaftern, die ihre Länder betreffen, und machen Hochschulen sowie Geldgeber auf die Bedürfnisse der Forscher aufmerksam. «Für mich ist das die Möglichkeit, in dieser schwierigen Zeit eine sinnvolle Aufgabe zu übernehmen», sagt Andriushchenko. «Mein Vorteil ist, dass ich genau weiss, wie Schweizer und wie ukrainische Universitäten funktionieren.»

«Science for Ukraine» sammelt auch Angebote für Studierende, die das Land verlassen haben. Einige Hochschulen in der Schweiz hätten bereits einen speziellen Gaststatus für geflüchtete Studenten aus der Ukraine, andere leider nicht, sagt Andriushchenko.

Jobangebote für Forscher gibt es dagegen von fast allen grossen Hochschulen in der Schweiz, insgesamt sind es auf der Website von «Science for Ukraine» mehr als hundert. Meist werden die Stellen neu geschaffen. Sie sind direkt durch die Departemente finanziert oder durch Spenden. So hat zum Beispiel eine Stiftung der Universität Genf eine Million Franken zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt. Eine andere Möglichkeit ist die Unterstützung durch den Schweizerischen Nationalfonds (SNF).

Der SNF hat mittlerweile bereits neun Millionen Franken freigegeben, um Forscher zu unterstützen, die vom Krieg in der Ukraine betroffen sind. Grösstenteils ist das Geld direkt für Menschen aus der Ukraine gedacht: Forschungsgruppen, die bereits vom SNF unterstützt werden, können es verwenden, um eine geflüchtete Forscherin oder einen geflüchteten Doktoranden für ein Jahr anzustellen. Solche Jobmöglichkeiten können dann bei «Science for Ukraine» ausgeschrieben werden.

Zudem arbeitet der SNF mit «Scholars at Risk» zusammen. Die Schweizer Sektion der internationalen Organisation vermittelt Ukrainerinnen und Ukrainer an Schweizer Hochschulen. Diese werden ebenfalls vom SNF für ein Jahr unterstützt. Das Ziel von «Scholars at Risk» ist, Forscher zu unterstützen, die in ihrer Heimat verfolgt werden.

Offener Brief sorgt für Aufregung

Der SNF würde auch russische oder weissrussische Wissenschafter unterstützen, wenn sie «Scholars at Risk» als gefährdet einstuft – etwa weil sie sich zu kritisch zum Krieg geäussert haben. Bis jetzt ist es laut SNF aber noch zu keinem solchen Antrag gekommen.

Überhaupt stellt sich für die wissenschaftliche Gemeinschaft die Frage, wie sie mit Forschern aus Russland umgehen soll. Zumal ein offener Brief, den die Vereinigung der russischen Universitätsrektoren Anfang März publiziert hat, für Aufregung sorgt.

Darin schreiben sie zum Krieg: «Dies ist die Entscheidung Russlands, die achtjährige Konfrontation zwischen der Ukraine und dem Donbass endlich zu beenden, die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine zu erreichen und sich so vor wachsenden militärischen Bedrohungen zu schützen.» Es gelte die russische Armee und Wladimir Putin zu unterstützen. Zu den mehr als 180 Unterzeichnern des Schreibens gehören die Rektoren führender russischer Institutionen wie der Lomonossow-Universität Moskau und der Staatlichen Universität Sankt Petersburg.

Die russischen Universitätsrektoren haben sich für den Krieg ausgesprochen, viele Forscher sind aber dagegen: Das Hauptquartier der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau.

Die russischen Universitätsrektoren haben sich für den Krieg ausgesprochen, viele Forscher sind aber dagegen: Das Hauptquartier der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau.

Getty Images

«Der Brief ist schockierend», sagt Yves Flückiger, Rektor der Universität Genf und Präsident der Schweizer Hochschulrektorenkonferenz Swissuniversities. Er begrüsst deshalb internationale Sanktionen gegen russische Forschungseinrichtungen, die sich für den Krieg ausgesprochen haben. Einige gibt es bereits: Das EU-Forschungsprogramm Horizon hat die Kooperation mit Russland ausgesetzt, eine bedeutende Mathematik-Konferenz wird nicht in St. Petersburg stattfinden, das Kernforschungszentrum Cern hat Russland den Beobachterstatus entzogen.

Verschiedene ukrainische Forscher haben zudem gefordert, dass wissenschaftliche Zeitschriften keine Artikel von Russinnen und Russen mehr akzeptieren sollen. Das letzte Mal traf ein solcher Ausschluss deutsche und österreichische Wissenschafter nach dem Ersten Weltkrieg. Nur eine Handvoll Magazine wie das «Journal of Molecular Structure» sind nun aber dem Aufruf gefolgt. Die allermeisten Journals möchten den Austausch unter Forschern nicht verhindern.

Flückiger findet das richtig: «Wir müssen zwischen Institutionen und Personen unterscheiden», sagt er. Die akademische Gemeinschaft könne auf der Weltbühne als Friedensstifter fungieren. Weil sich nun Kommunikationskanäle schlössen, sei der Dialog zwischen Forscherinnen und Forschern umso wichtiger. «Wir sollten nur dann einzelne russische Wissenschafter sanktionieren, wenn sie sich für den Krieg ausgesprochen haben.» Schliesslich seien viele Akademiker dagegen.

Tatsächlich haben rund 8000 russische Forscher einen offenen Brief unterschrieben, in dem sie die Invasion Russlands klar verurteilen. Der Krieg gegen die Ukraine sei ungerechtfertigt und sinnlos. Das Schreiben war von der ursprünglichen Website verschwunden, ist nun auf einer anderen aber wieder erschienen.

Ende März hat schliesslich Moskaus Wissenschaftsminister selbst die russischen Forscher dazu aufgerufen, sich nicht mehr um das Besuchen von Konferenzen im Ausland und das Publizieren in internationalen Journals zu bemühen. Damit dürfte der Aufschwung, den der Wissenschaftsbetrieb Russlands in den vergangenen Jahren erfahren hat, ein Ende nehmen – dank finanziellen Anreizen der Regierung stieg die Zahl wissenschaftlicher Artikel zuletzt um zehn Prozent jährlich. Stattdessen droht den russischen Forschern nun eine zunehmende Isolation.

Bomben auf Universitätsinstitute

In einer weitaus dramatischeren Lage befinden sich aber die Wissenschafter in der Ukraine. Sie sind nicht nur massiv in ihrer Forschungstätigkeit beeinträchtigt, sondern auch an Leib und Leben bedroht. Russische Bomben und Raketen schlagen sogar in Hochschulen ein. Besonders betroffen ist die Stadt Charkiw im Osten der Ukraine, wo sich eine der wichtigsten Universitäten des Landes befindet. Die russische Armee zerstörte hier unter anderem das Gebäude der Wirtschaftsfakultät sowie das Institut für Physik und Technologie. Letzteres verfügt über Geräte, die bei Beschädigung radioaktive Elemente freisetzen können, wie Mitarbeiter des Instituts vor wenigen Tagen in «Nature» beschrieben haben.

In einem Leserbrief zeigen sie sich entsetzt über die Bombardements und bitten die internationale Gemeinschaft darum, auch Wissenschaftern, die in der Ukraine geblieben sind, zu helfen. Vielen von ihnen ist es nicht möglich zu fliehen, weil es zu gefährlich ist, weil sie ältere Familienmitglieder vor Ort unterstützen müssen oder weil sie Männer zwischen 18 und 60 Jahren sind und deshalb das Land nicht verlassen dürfen.

Dieses Bedürfnis hat auch «Science for Ukraine» erkannt. Vor kurzem rief die Organisation Forschungseinrichtungen und Geldgeber aus aller Welt dazu auf, Projekte auszuschreiben, bei denen Wissenschafter aus der Ferne mitarbeiten können. Studierende in der Ukraine könnten etwa von Online-Lernangeboten oder Mentoring-Programmen profitieren, Forscher an gemeinsamen Projekten mitarbeiten oder bei bestimmten Aufgaben wie der Datenerfassung helfen. «Bis jetzt sind erst wenige solcher Projekte auf unserer Plattform zu finden», sagt der für die Schweiz zuständige Koordinator Maksym Andriushchenko.

Und er verweist auf eine weitere neue Initiative, die von der ukrainischen Regierung gemeinsam mit weiteren Organisationen Ende März lanciert wurde: die «Ukrainian Global University», die sich auf die langfristigen Bedürfnisse ukrainischer Studentinnen und Wissenschafter konzentriert. Sie sollen Stipendien erhalten, um im Ausland Forschungsprogramme oder ganze Studiengänge zu absolvieren, unter der Bedingung, dass sie danach in ihr Heimatland zurückkehren. Das erklärte Ziel der Initiative ist der Wiederaufbau der Ukraine.

Auch die Wirtschaftsprofessorin Tetiana Murovana, die nun seit zwei Wochen in Lausanne lebt, möchte dereinst zurück in ein friedvolles Kiew gehen. «Wenn es in der Ukraine wieder genug sicher ist, kehren hoffentlich viele Forscher heim», sagt sie. «Um die Städte wieder aufzurichten und eine neue Entwicklung in Gang zu setzen.»

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