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Vor dem Europäischen Parlament in Brüssel flattern die europäische und die ukrainische Flagge nebeneinander.

© AFP

Krieg und Verfolgung im Osten: Eine Uni für Ukrainer, Russen und Belarusen

In Berlin stellt sich die „University of New Europe“ vor. Bisher auf humanitäre Hilfe ausgerichtet, will man Geflüchteten nun mittel- und langfristige akademische Perspektiven bieten.

„Wir, eine Gemeinschaft von Akademikern und Aktivisten aus führenden europäischen Institutionen, sind vereint durch die Vision einer künftigen University of New Europe (UNE) als einem gemeinsamen Raum des Lernens, der Forschung und des Dialogs.“ So beginnt das Mission Statement der Universität des Neuen Europas auf der jetzt freigeschalteten UNE-Homepage.

Die Initiative will in erster Linie Wissenschaftler:innen und Studierenden, die unter den Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine leiden, eine akademische Heimat bieten. „Es gibt dafür bislang keine Struktur, die den Betroffenen eine wirkliche Perspektive in Europa bietet“, sagt der deutsche Mitinitiator Jan Claas Behrends, Professor für Diktatur und Demokratie in Deutschland und Osteuropa an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

Das UNE-Projekt stellt sich am Donnerstag, dem 6. Oktober, auf dem Berliner Kongress der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde an der Freien Universität vor. Zur Steuerungsgruppe der University of New Europe gehören neben Jan Claas Behrend Persönlichkeiten wie Alexander Etkind von der Central European University (Wien), der einst die private Europäische Universität in St. Petersburg gründete, und Ellen Rutten, Slawistik-Professorin an der Universität Amsterdam.

Von ukranischer Seite ist der junge Kommunikations- und Holocaustforscher Mykola Makhortykh dabei, Postdoktorand am Institut für Kommunikations- und Medienforschung der Universität Bern. UNE soll neben Ukrainer:innen, die ihr Land verlassen müssen, auch Verfolgten aus Russland und Belarus offenstehen.

Ein Versöhnungsprojekt, das von vornherein umstritten wäre, auch wenn es sich ausdrücklich an russische und belarusische Regimegegner und -gegnerinnen richtet? Jan Claas Behrends, der auch Professor am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam ist, kann Vorbehalte verstehen.

Wir haben explizit kein Versöhnungsparadigma. Es geht um pragmatische, individuelle Hilfe.

Jan Claas Behrends, Diktaturforscher an der Viadrina und in Potsdam

Schließlich führt Russland einen völkerrechtswidrigen brutalen Krieg gegen die Ukraine und der Präsident von Belarus Alexander Lukaschenko ist ein Verbündeter des russischen Präsidenten Wladimir Putin. „Wir haben explizit kein Versöhnungsparadigma. Es geht um pragmatische, individuelle Hilfe“, sagt Behrends. Ebenso gehe es um die Förderung von Experten und Expertinnen für die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Zukunft „nach Putin und Lukaschenko“.

Die Initiative vernetzt Geflüchtete mit Expert:innen in Europa

Der Diktatur- und Demokratieforscher erklärt das Drei-Staaten-Projekt zudem mit der Genese des UNE-Gedankens: Die Gründungsinitiative habe sich unter dem Eindruck der Niederschlagung der Bürgerproteste gegen das Lukaschenko-Regime erstmals vor einem Jahr in Berlin getroffen. Mit der Hilfsorganisation Akno (belarusisch für Fenster) habe sich eine Partnerin gefunden, um verfolgten und geflohenen Forschenden und Studierenden zu helfen. Die Arbeit von Akno wird vom Auswärtigen Amt und von der DGO unterstützt, so Behrends.

Ein Mann und zwei Frauen stehen an einer Tafel zur Geschichte des Berliner Osteuropa-Instituts und unterhalten sich.
Viele Universitäten, auch die FU Berlin, haben Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen. Doch die Verträge sind in den allermeisten Fällen nur kurzfristig.

© Tsp/Burchard

Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 habe die Initiative dann eine ganz andere Dimension bekommen, sagt Behrends. Ukrainischen Kriegsflüchtlingen, russischen Regime- und Kriegsgegnerinnen und belarusischen Exilanten helfen UNE und Akno inzwischen vor allem mit einem „Mentor Programm“.

Nach einer Finanzierung für die Uni wird noch gesucht

Es vernetzt Lehrende, Studierende und Akteure aus dem Kulturbereich mit europäischen Expert:innen, die versuchen Betroffenen bei der Flucht, bei der Suche nach ersten Unterkünften, Stipendien oder Jobs zu helfen. Dafür betreibt die Initiative auch eine Online-Liste mit entsprechenden Angeboten – staatlicherseits oder etwa von europäischen Hochschulen.

Bislang habe man rund 300 solcher „Matches“ zwischen Geflüchteten und hiesigen Engagierten machen können, sagt Behrends. Er selber organisiert Sommer- und Winterschulen für die Beteiligten, die nächste startet im Januar 2023 in Como (Italien). Geplant sind auch eine erste Online-Vorlesungsreihe und ein Buch-Programm der UNE.

Erste Schritte, die Universität als feste Institution der Forschung und der Lehre zu gründen, gehe gerade seine Kollegin Ellen Rutten in Amsterdam. Die Frage der Finanzierung sei bislang nicht ansatzweise gelöst, gibt Behrends zu. „Wir sind mit Abgeordneten im Europäischen Parlament und im Bundestag im Gespräch, die das Projekt durchaus unterstützen.“ Es werde allerdings immer wieder auf Programme etwa des Deutschen Akademischen Austauschdienstes oder der Alexander von Humboldt-Stiftung verwiesen.

Aber deren Stipendien und Gastprofessuren laufen jeweils nur für kurze Zeit, werden teilweise wieder gestrichen und decken ohnehin nicht den Bedarf an Studienplätzen, Positionen an Hochschulen, aber auch an nicht-akademischen Stellen. „Alexander Etkind sagt: Jedes Zeitalter muss seine Universität gründen“, zitiert Jan Claas Behends. Jetzt sei die Zeit für eine Universität des Neuen Europas.

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