Wissenschaft hilft, internationale Beziehungen zu knüpfen und zu stärken. Aber Russland hat schon lange vor dem Krieg gegen die Ukraine einen anderen Weg eingeschlagen. Wie gefährlich das ist, erklärt Jürgen Renn, Direktor des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte. Ein Gespräch darüber, was Forschende in den Machtzentren dieser Welt verändern können

ZEIT ONLINE: Herr Renn, wie politisch sollte Wissenschaft sein?

Jürgen Renn: Wissenschaft sollte in erster Linie Wissen produzieren. Der entscheidende Punkt aber ist: Welche Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Politik gibt es und wie können wir sie optimieren? Forschende sollten hier mehr Verantwortung übernehmen, sie dürfen sich aber nicht an die Stelle von Politikerinnen und Politikern setzen. Wissenschaft liefert die Informationen, die für politische Entscheidungen gebraucht werden. Wissenschaftliche Erkenntnisse sollten ganz selbstverständlich in Entscheidungsprozesse einfließen. Wissenschaft kann und sollte darüber hinaus aber auch Orientierungswissen liefern, das Politik und Gesellschaft Handlungsoptionen eröffnet. Und die Wissenschaft selbst muss sich vernehmbar machen, sodass dieses Wissen auch in der Öffentlichkeit ankommt. Das geschieht bisher zu wenig. Was wir nicht brauchen, sind von der Politik bestellte Gefälligkeitsgutachten.

ZEIT ONLINE: Längst ist es Alltag für Forschende, sich mit Kolleginnen und Kollegen weltweit auszutauschen, Daten zu teilen und gemeinsam zu publizieren. Forschende waren noch nie so gut vernetzt wie heute – wie hilft das bei politischen Konflikten und Kriegen?

Renn: Wissenschaft funktioniert schon immer über nationale Grenzen hinweg. Seit der frühen Neuzeit gibt es eine europäische Wissenschaftscommunity. Bereits während des Dreißigjährigen Kriegs wurden Netzwerke über die Fronten hinweg, also auch zwischen Forschenden katholischer und protestantischer Länder, gepflegt. Für eine effektive Wissenschaftsdiplomatie ist aber die Verbindung von Wissenschaftlern in die Machtzentren zentral. Zum Beispiel waren sich die Regierungen der verfeindeten Länder im Kalten Krieg sehr bewusst, dass sie auf die Wissenschaft angewiesen sind. Um die nukleare Bedrohung einzuschätzen, wurden Forschende direkt in politische Entscheidungsprozesse einbezogen. Gleichzeitig wurde 1957, mitten im Kalten Krieg, die erste Pugwash-Konferenz veranstaltet, bei der Forschende aus aller Welt darüber diskutiert haben, wie die globale Sicherheit gewährleistet werden kann. Russische und US-amerikanische Wissenschaft saßen dort an einem Tisch. Weil die Forschenden damals auch in die Politik einbezogen wurden, konnte so wirksame Wissenschaftsdiplomatie entstehen.

ZEIT ONLINE: Das geht aber nur, wenn eine Regierung oder ein Regime Wissenschaft und Forschung überhaupt als integralen Bestandteil der eigenen Politik versteht?

Renn: Es geht im Kern letztlich darum, ob Gesellschaft und Politik der Wissenschaft vertrauen und wie das oft heterogene und sich immer weiterentwickelnde wissenschaftliche Wissen Eingang in politische Entscheidungsprozesse findet. Ein Austausch zwischen Wissenschaft und Politik findet zwar auf verschiedenen Ebenen statt, dafür existieren in jeder modernen Gesellschaft vielfältige Institutionen. Aber die Bedeutung, die wissenschaftlichen Einsichten dabei zugemessen werden, kann sehr unterschiedlich sein. Seit über 30 Jahren gibt es den Weltklimarat IPCC und die UN-Klimakonferenzen. Die Sachberichte des IPCC wurden politisch lange ignoriert, auch wenn sie ganz konkret politische Minderungs- und Anpassungsmaßnahmen aufgezeigt haben. Langsam aber entfalten sie ihre Wirkung. Immerhin ist mit den UN-Klimakonferenzen und seit 1995 insbesondere mit den Vertragsstaatenkonferenzen (Conference of the Parties, COP) eine wichtige Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik entstanden, die durchaus globalen Einfluss auf das politische Handeln hat, wenn auch immer noch viel zu wenig. Dort wird zwischen wissenschaftlichen und politischen Positionen von fast 200 Ländern vermittelt, und das straff organisiert. Dadurch hat Wissenschaftsdiplomatie ein ganz neues Niveau erreicht. Das liegt auch daran, dass Wissen für unser Leben wahrscheinlich noch nie so wichtig war wie heute.

ZEIT ONLINE: Blicken wir direkt auf Russland: Gibt es überhaupt einen ernsthaften Austausch zwischen Politik und Wissenschaft im Regime von Wladimir Putin?

Renn: Auch die russische Politik ist natürlich auf wissenschaftliches Fachwissen angewiesen, aber das scheint weitgehend gleichgeschaltet zu sein, jedenfalls auf der Führungsebene. Am langen Tisch Putins sitzen keine Wissenschaftler und sicher keine, die sich noch trauen würden, ihm zu widersprechen. Wer widerspricht, ist bedroht und verliert seine Freiheit. Damit gibt es meines Wissens auch niemanden im Umkreis Putins, der für eine Verständigung mit westlichen Forschenden ansprechbar wäre. Absurderweise ist deshalb der Abbruch der offiziellen Beziehungen zu den wissenschaftlichen Institutionen der einzige Ausdruck der aktuellen wissenschaftsdiplomatischen Misere. In der Vergangenheit hat man auch mitten in der Krise immer noch versucht, Brücken zu schlagen. Aktuell sind alle offiziellen Kooperationen mit Russland eingefroren.

ZEIT ONLINE: War es ein Fehler, die Sanktionen gegen Russland auch auf die Wissenschaft auszuweiten?

Renn: Nein, sie sind Ausdruck der Ablehnung des Angriffskrieges und aller russischen Institutionen, die sich nicht davon distanzieren. Sie sind aber keine Ablehnung der russischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, unter denen auch viele mutige Gegner dieses Krieges und des Putin-Regimes sind – wie etwa ein Ende Februar veröffentlichter offener Brief russischer Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten bezeugt. Das gilt ja auch für die Sanktionen insgesamt, deren Teil die angekündigten Unterbrechungen der bilateralen Kooperation mit russischen Wissenschaftseinrichtungen sind. Sie sind aber keinesfalls Ausdruck einer antirussischen Haltung, sondern sollen ausschließlich dazu dienen, diesen blutigen Angriffskrieg möglichst rasch zu beenden.

Das ist eine wichtige Differenzierung, die übrigens auch die Stellungnahme der Max-Planck-Gesellschaft sehr klar zum Ausdruck gebracht hat. Angesichts des Mordens in der Ukraine sollten wir uns jedenfalls nicht darüber beschweren, dass Sanktionen auch für uns im Westen schmerzhaft werden können. Wir haben es uns allzu lange bequem gemacht und die einseitige Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen in Kauf genommen, statt an Infrastrukturen und geopolitischen Konstellationen zu arbeiten, wie sie für eine globale Energiewende zu den Erneuerbaren notwendig sind. Hier hätte sich vielleicht auch die Wissenschaft schon in der Vergangenheit deutlicher äußern müssen und sollte es jedenfalls in Zukunft tun.