Frankreichs Kaderschmieden wollen näher an das Volk – doch sie tun sich schwer

Emmanuel Macron wollte in seiner Amtszeit die Chancengleichheit fördern und den Graben zwischen Elite und Volk verkleinern. Doch der Weg in die Hochschulen, die die Elite hervorbringen, fällt Kindern aus sozial benachteiligten Familien immer noch sehr schwer.

Nina Belz, Palaiseau, Judith Kormann, Les Ulis
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Studierende der École polytechnique in ihren Uniformen bei der Parade zum Nationalfeiertag auf den Champs-Élysées.

Studierende der École polytechnique in ihren Uniformen bei der Parade zum Nationalfeiertag auf den Champs-Élysées.

Pascal Rossignol / Reuters

Amin Lakha liebt, was er tut. Das nimmt man ihm sofort ab, wenn er vor einem gut gefüllten Hörsaal von seinen Physikvorlesungen erzählt: Seine dunklen Augen leuchten, und über sein Gesicht zieht sich ein breites Grinsen. Der 23-Jährige studiert im dritten Jahr Ingenieurwissenschaften an der französischen Elitehochschule École polytechnique. An diesem Mittwochnachmittag spielt Lakhas Weg dorthin eine mindestens so grosse Rolle wie der Inhalt seines Studiums.

Die rund 60 Gymnasiasten, die Amin Lakha und einer Kommilitonin gebannt zuhören, leben alle in sozial schwachen Vierteln im Grossraum Paris. Lakhas Aufgabe an diesem Nachmittag ist es, den Schülerinnen und Schülern bewusst zu machen, dass ihre Herkunft für den Zugang an seine Hochschule keine unüberwindbare Hürde darstellen muss. Freimütig erzählt er von seiner Kindheit in einer Pariser Banlieue. Sein Vater stammt aus Marokko, seine Mutter aus der Slowakei. In seinem «collège» sei die Abbrecherquote hoch gewesen, sagt er. Trotz zusätzlichen Pädagogen und Stipendien habe es vielleicht alle zwei oder drei Jahre jemand auf eine renommierte weiterführende Schule geschafft. Wenn die Schüler überhaupt über die Möglichkeiten Bescheid wussten.

Lakhas Erzählung soll dazu beitragen, dass sich in Frankreich etwas ändert – daran, dass Laufbahnen wie seine immer noch selten sind.

Exzellente Berufsaussichten – für eine kleine Oberschicht

Bis heute schaffen es nur wenige Franzosen aus bescheidenen Verhältnissen auf prestigeträchtige Hochschulen wie die École polytechnique. Die sogenannten «grandes écoles» bilden Frankreichs Elite für Politik, Ingenieurswesen, Wirtschaft und Verwaltung aus. Fast jeder Präsident der Fünften Republik hat eine «grande école» besucht. Wer an einer der mehr als 200 Hochschulen studiert, hat gute, wenn nicht exzellente Berufsaussichten – und profitiert häufig von einem ausgezeichneten Alumni-Netzwerk.

Besonders prestigeträchtige Posten stehen Studierenden der renommiertesten Hochschulen in Aussicht. Die École polytechnique mit ihrem Ingenieurslehrgang, der eine militärische Grundausbildung beinhaltet, gehört dazu. 80 Prozent ihrer Studenten werden noch vor dem Abschluss rekrutiert. Sie kommen in den renommierten Staatskorps unter, gehen in die Forschung oder in die Privatwirtschaft. Zu den Absolventen der X, wie sich die Hochschule selbst nennt, zählen der Leiter des Luxusgüterkonzerns LVMH Bernard Arnault, der ehemalige Credit-Suisse-Boss Tidjane Thiam und der frühere Chef von Renault-Nissan Carlos Ghosn.

Doch ihre geringe soziale Durchmischung hat den «grandes écoles» den Ruf eingebracht, nicht allen gleichermassen offenzustehen. Kritiker sehen sie vor allem als Orte, an denen sich Frankreichs Oberschicht reproduziert – und als Symbol eines Problems, mit dem das Land seit Jahren kämpft: der geringen sozialen Mobilität.

Regelmässig stellen Experten und Politiker fest, dass der soziale Fahrstuhl in Frankreich nicht funktioniert, wie er soll. «Es ist nicht mehr wahr, dass man leicht zur Elite der Republik aufsteigen kann, wenn man aus einer Familie von Arbeitern, Bauern oder Handwerkern kommt», gestand Präsident Emmanuel Macron vor drei Jahren ein. Mit der Abschaffung der berühmten Verwaltungshochschule ENA setzte er im Frühjahr 2021 ein Zeichen. Doch am Grundproblem hat das wenig geändert.

Studierende der École polytechnique musizieren im hochschuleigenen Chor.

Studierende der École polytechnique musizieren im hochschuleigenen Chor.

Jérémy Barande / Collections École polytechnique / PD
Der 160 Hektaren grosse Campus der Hochschule in Palaiseau, südlich von Paris.

Der 160 Hektaren grosse Campus der Hochschule in Palaiseau, südlich von Paris.

Jérémy Barande / Collections École polytechnique / PD

In den Schulen Chancen fördern

Alice Carpentier ärgert es dennoch, wenn die École polytechnique als elitäre Kaderschmiede dargestellt wird. «Damit sagt man einem Teil der Jugend ja quasi: Das ist nichts für euch.» Carpentiers Aufgabe ist es, gegen diese Vorstellung anzukämpfen. Sie koordiniert Aktionen der Hochschule, die Schülern in sozial schwachen Vierteln zeigen sollen, welche Möglichkeiten ihnen offenstehen. Der Campus-Besuch der Gymnasiasten aus der Banlieue ist eine davon. Auf dem 160 Hektaren grossen Gelände in Palaiseau, rund zwanzig Kilometer südlich von Paris, treffen die Jugendlichen Studenten, besuchen Labors, Sportanlagen und das unieigene Museum, das sich den Geistesvätern und den Erfindungen der École polytechnique widmet.

Keine zehn Kilometer weiter zeigt sich an einem Freitagnachmittag ein anderer Aspekt von Carpentiers Arbeit: in einem Gymnasium der Vorstadt Les Ulis. Hier sitzen ein Dutzend Jugendliche in einem Klassenzimmer. Die Fenster geben den Blick auf eine rosa gestrichene Wohnsiedlung frei. Dahinter geht ein Plattenbau in den nächsten über.

An der Tafel gibt ein junger Mann den Schülern mathematische Rätsel auf. Er ist Polytechnique-Student im ersten Jahr. Im Rahmen eines Tutorenprogramms verbringt er sechs Monate an dem Gymnasium, steht Schülern für Fragen zur Verfügung und hält für eine kleine Gruppe wöchentliche Kurse ab. Die Teilnehmer wurden nach sozialen Kriterien ausgewählt, nach Motivation und Leistung. In den Kursen sollen sie für Technik, Wissenschaft und Mathematik begeistert werden und erfahren, wie der Weg an eine «grande école» gelingen kann.

Alice Carpentier vergleicht die Aktion mit dem Essen an einem Familientisch. Sie selbst komme aus einer Familie der Bourgeoisie. «Bei Tisch konnte ich Fragen stellen», sagt sie, über Berufsoptionen und den Weg dorthin. «Doch das Glück hat zu Hause nicht jeder.» Manche Schüler wüssten gar nicht, was eine «grande école» sei. Oder sie dächten, eine Ausbildung dort käme für sie ohnehin nicht infrage.

Nach 14 Jahren hat sich «rein gar nichts geändert»

Anfangs sei sie nicht begeistert gewesen, zwei Stunden länger die Woche die Schulbank zu drücken, sagt eines der Mädchen im Klassenzimmer. Sie ist 16 Jahre alt, trägt eine braune Lederjacke und ein weisses Kopftuch. Ihre Mutter und eine Lehrerin hätten sie zur Teilnahme gedrängt. Heute ist sie darüber froh. Das System der «grandes écoles» kannte sie zuvor nur vage, nun überlegt sie, einen Studienplatz an der École polytechnique anzustreben. Ingenieurin oder Architektin wolle sie werden. Fest steht: Sie will studieren, Karriere machen. «Ich will zeigen, dass es jeder zu etwas bringen kann», sagt sie.

Alice Carpentier hört erfreut zu. Momente wie diese zeigten, wie wichtig die Aktionen seien, sagt sie. Die 2008 entstandenen Tutorenprogramme hat sie in den letzten Jahren von drei auf rund dreissig «lycées» in sozial schwachen Vierteln im Grossraum Paris ausgeweitet. Mit Schulen in anderen Teilen des Landes laufen ähnliche Partnerschaften via Internet. Die École polytechnique ist mit solchen Aktionen bei weitem nicht allein. Seit 2008 engagieren sich eine Vielzahl von «grandes écoles» unter dem Titel «cordées de la réussite» auf ähnliche Weise.

Doch ihre Bilanz nach vierzehn Jahren ist ernüchternd: «Es hat sich rein gar nichts geändert», sagt Julien Grenet. Der Wirtschaftswissenschafter hat mit Kollegen die Durchmischung der Hochschulen zwischen 2006 und 2017 analysiert und das Ergebnis 2021 in einem Bericht festgehalten. Bei den renommiertesten Hochschulen ist das Problem demnach besonders gross: An der École polytechnique machten im Schuljahr 2016/2017 Kinder von Firmenchefs, Ärzten, Anwälten, Ingenieuren, Wissenschaftern oder Lehrern 92 Prozent der Studierenden aus. Weniger als ein Prozent waren Kinder von Arbeitern und Eltern ohne Anstellung. Die schulische Leistung allein könne dieses Ungleichgewicht nicht erklären, sagt Grenet. Basierend auf zusätzlichen Daten, die er einsehen konnte, sieht er landesweit auch seit 2017 keine Veränderung.

Bei den Aktionen der «grandes écoles» sieht er mehrere Probleme. Zum einen kämen sie nicht breit genug zum Einsatz. «Sie treffen jedes Jahr nur etwa 1,5 Prozent der Schüler.» Präsident Macron hat vor eineinhalb Jahren angekündigt, die Programme von 80 000 auf 200 000 Schüler auszuweiten, was dann immerhin gut 3,8 Prozent entspräche. Zum anderen, sagt Grenet, sei die Wirksamkeit der verschiedenen Massnahmen kaum je wissenschaftlich überprüft worden. Die Hochschulen hätten Vorbehalte, diese infrage zu stellen. «Wir wissen heute nicht, was die Aktionen wirklich ändern.»

Alice Carpentier bleibt von der Nützlichkeit ihrer Arbeit überzeugt. «Das Ziel ist ja nicht, alle Schüler zu uns zu holen», sagt sie – immerhin gehöre die École polytechnique zu den selektivsten Elitehochschulen. «Es geht darum, Freude an der Wissenschaft zu wecken und Optionen aufzuzeigen.» Dass auch ihrer Hochschule selbst mehr Durchmischung guttäte, streitet sie zwar nicht ab: Schliesslich werde von der École polytechnique erwartet, ausgezeichnete Absolventen hervorzubringen. «Das ist natürlich eher der Fall, wenn nicht alle Studierenden den gleichen Hintergrund haben.» Allerdings könnten die «grandes écoles» eben nicht allein für mehr Diversität sorgen, «wir sind nur eines der Glieder in der Kette».

Studierende der École polytechnique marschieren am Nationalfeiertag 2021 an Präsident Emmanuel Macron vorbei. Die Uniform tragen sie nur zu offiziellen Anlässen.

Studierende der École polytechnique marschieren am Nationalfeiertag 2021 an Präsident Emmanuel Macron vorbei. Die Uniform tragen sie nur zu offiziellen Anlässen.

Daniel Pier / Getty
«L’X» nennt sich die École polytechnique selbst, das Logo der Hochschule prangt an einem der Eingänge.

«L’X» nennt sich die École polytechnique selbst, das Logo der Hochschule prangt an einem der Eingänge.

Jérémy Barande / Collections École polytechnique / PD

Grosse Vorteile bereits im «lycée»

Dem Argument stimmt auch der Wissenschafter Grenet zu. Eine wichtige Rolle spielten die Vorbereitungsklassen, die sogenannten «classes préparatoires». Sie sind eine quasi obligatorische Etappe nach dem «baccalauréat» für Schüler, die auf eine «grande école» wollen. «Dort müsste man breite Quoten einführen», denkt der Forscher – für Schüler aus sozial schwachen Vierteln, aber auch aus anderen Teilen des Landes, die an den «grandes écoles» ebenfalls unterrepräsentiert sind.

Denn wer gute Chance hat, in eine der besten «classes préparatoires» zu kommen, entscheide sich schon früh – durch die Wahl der richtigen Schule. Schüler der renommierten Pariser Gymnasien haben dabei einen grossen Vorteil. Sie werden bereits intensiv auf die Aufnahmeverfahren vorbereitet. Oft liegen die besten Vorbereitungsklassen auch in den gleichen Gebäuden wie die Schulen.

Bereits diese Gymnasien rekrutieren ihre Schüler nach Leistung. Allerdings sei bekannt, dass diejenigen einen privilegierten Zugang hätten, die schon in derselben Einrichtung aufs «collège» gegangen seien, sagt Grenet. Das wiederum ist vom Wohnort abhängig und damit davon, ob sich die Eltern ein Appartement im schicken 5. Arrondissement von Paris leisten können. Eine Reform der Aufnahmeverfahren zweier besonders prestigeträchtiger Gymnasien, durch die soziale Faktoren stärker einbezogen werden, hat kürzlich Protest hervorgerufen.

Auch für Amin Lakha begann der Weg an die École polytechnique mit dem Gymnasium. Seine Eltern stellten ihm ein Bewerbungsdossier für das Lycée Henri-IV zusammen, eine der besten Schulen der Hauptstadt. Lakha wurde aufgenommen. «Da sprachen alle nur noch von den besten Vorbereitungskursen für die besten Hochschulen», erzählt er. Einen Teil seiner Schulferien verbrachte er von da an, dank Stipendien, in Lerncamps in den Savoyen, wo er Mathematikaufgaben löste.

Die Zeit an der «classe préparatoire», auf die er nach dem Gymnasium ging, sei hart gewesen, sagt Lakha vor den Schülern im Hörsaal. Man lerne oft abends bis 22 Uhr und auch am Wochenende. Es ist ihm offensichtlich wichtig zu betonen, dass man es ohne Fleiss nicht an die besten Hochschulen des Landes schafft.

Lakha erwähnt aber noch einen anderen Faktor, und zwar gleich mehrmals. Angesichts seines familiären Hintergrunds habe das Glück eine grosse Rolle gespielt. Eine sehr grosse.

Ein Mandat für mehr Chancengleichheit?

jkr. · Emmanuel Macron hat die Chancengleichheit in den vergangenen Jahren zu einer seiner Prioritäten erklärt. Auch in der Ankündigung seiner erneuten Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl im April betonte er, die Meritokratie sollte wieder zu einem Versprechen für alle werden. Um diese zu fördern, hat Macrons Regierung in den letzten Jahren zum einen die Klassengrössen von Primarschulen in sozial schwachen Vierteln halbiert. Zum anderen liess er die Verwaltungshochschule ENA durch ein neues Institut du service public ersetzen, dessen Abgänger nicht mehr direkt in Toppositionen katapultiert werden sollen. Er kündigte an, die «cordées de la réussite» auszubauen und die Plätze in «classes préparatoires», die auf eine Laufbahn in der Verwaltung vorbereiten, für sozial Benachteiligte von 700 auf 1700 zu erhöhen. Der Wissenschafter Julien Grenet bezeichnet dies allerdings als «Tropfen auf den heissen Stein». Positiver sieht er die Halbierung der Klassengrössen in den Primarschulen. «Davon abgesehen gibt es aber keinen radikalen Wandel, der etwas an der Rekrutierung der Eliten in Frankreich ändern könnte», sagt er.