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Protest der türkischen Akademiker für den Frieden auf dem Bebelplatz vor der Humboldt-Universität.

© Amory Burchard

Forschende im Berliner Exil: Große Freiheit, wenig Perspektiven

In autoritär regierten Ländern steht die Wissenschaft unter Druck. Für viele Forschende, die ihre Heimat aus diesem Grund verlassen, ist Berlin ein Zufluchtsort. Doch nicht alle können bleiben.

Die Forschungsfreiheit steht weltweit unter Druck. Ob im Iran, in Afghanistan, Syrien und China, in der Türkei oder in Ungarn: In vielen Fächern können Wissenschaftler:innen nicht mehr ihrer Arbeit nachgehen, ohne Zensur oder gar Verfolgung zu fürchten. Als Orte kritischen Denkens geraten Universitäten häufig ins Visier von autoritären Machthabern, vielen Forschenden bleibt nur die Flucht.

So dokumentiert das Netzwerk „Scholars at Risk“ von September 2021 bis August 2022 knapp 400 Zwischenfälle in 65 Ländern: darunter Zusammenstöße mit der Polizei, Verhaftungen, Ausweisungen. Subtilere Methoden der Einschüchterung sind Reiseverbote, Behinderung von Karrieren, Disziplinarverfahren – die neuerdings im „Academic Freedom Index“ erfasst werden.  

Die Berliner Politologin Janika Spannagel, die gerade mit dem Preis des Deutschen Akademischen Austauschdienstes für akademische Grundwerte ausgezeichnet wurde, hat den Index mitentwickelt. Das globale Messinstrument ist methodisch komplex, denn Daten stellen autoritäre Regime natürlich nicht zur Verfügung. Stattdessen geben tausende ortskundige Expert:innen, deren Namen aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht werden, Einschätzungen zur Autonomie von Universitäten und der Lernatmosphäre auf dem Campus ab.

Protest gegen Prozesse um Academics for Peace in Istanbul.
Aktivist:innen und Forschende aus Deutschland in Istanbul, die aus Solidarität mit verfolgten Kolleg:innen in der Türkei protestierten.

© Lefteris Pitarakis/dpa

Bestwerte erreichen aktuell fast alle EU-Staaten sowie Kanada und Australien. Unter den unfreien Forschungsnationen finden sich auch Belarus, Jemen, Thailand und Saudi-Arabien. „Die Wissenschaft muss dort nicht zwangsläufig per Gesetz eingeschränkt sein“, erklärt Spannagel. Viele Staaten bekennen sich offiziell zur Forschungsfreiheit. „Trotzdem findet permanent informelle Einflussnahme statt.“

Gegenwind für eine kritische Intellektuelle

Nazan Maksudyan weiß, was es heißt, wissenschaftlich anzuecken. Die Historikerin beschäftigt sich mit osmanischer Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, auch mit dem Völkermord an den Armeniern. Direkt verboten war das an ihrer Universität in Istanbul nicht. „Aber bei der Verteidigung meiner Habilitation fiel ich zweimal durch.“ Maksudyan hatte den Begriff Genozid verwendet. Den Gegenwind habe sie an der Hochschule immer gespürt: „Als Frau, als Armenierin, als Jüdin, als kritische Intellektuelle, die in einem repressiven Land geboren und aufgewachsen ist, war ich daran gewöhnt.“ Im Herbst 2016 floh die Professorin nach Deutschland. In Berlin angekommen, sei das Gefühl von Freiheit und Sicherheit „fantastisch gewesen“.

Nazan Maksudyan, Sozialwissenschaftlerin aus der Türkei, die im deutschen Exil aktuell am Berliner Centre Marc Bloch forscht.
Nazan Maksudyan, Sozialwissenschaftlerin aus der Türkei, die im deutschen Exil aktuell am Berliner Centre Marc Bloch forscht.

© Nazan Maksudyan

„Deutschland ist eines der wichtigsten Zufluchtsländer für geflüchtete und gefährdete Forschende weltweit – und Berlin zugleich erste Anlaufstelle und Zentrum“, sagt Florian Kohstall, der an der Freien Universität das Netzwerk „Academics in Solidarity“ aufgebaut hat. Es bringt deutsche mit geflüchteten Wissenschaftler:innen zusammen, rund 140 Mentees werden derzeit von 100 Mentor:innen beraten.

Viele Geflohene können zunächst dank der Philipp Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung und des Auswärtigen Amts an deutschen Universitäten Fuß fassen: Seit 2016 wurden über 400 mehrjährige Aufenthalte finanziert. In den letzten Monaten kamen noch Sonderprogramme für afghanische und ukrainische Forscher:innen hinzu. Auf Landesebene bietet zudem die Einstein Stiftung Berlin ein Förderprogramm an.

Doch trotz der großzügigen Soforthilfen gibt es ein Problem: „Unser Wissenschaftssystem ist nicht gut geeignet, diese Menschen dauerhaft zu integrieren“, mahnt Kohstall. Die Aussicht auf eine unbefristete Stelle ist schlecht, der Konkurrenzdruck immens. „Wir hören diese Klage oft: Hier in Deutschland seien zwar die Gedanken frei, aber die materiellen Grundlagen der Forschungsfreiheit nicht gegeben.“

Viele strukturelle Hürden: Das erlebt auch Professorin Nazan Maksudyan. Nach Stationen am Leibniz-Zentrum Moderner Orient und an der FU forscht sie derzeit am Centre Marc Bloch der Humboldt-Universität. „Tatsächlich wechsle ich von einer befristeten Stelle zur nächsten“, sagt sie, „und stehe ständig unter Druck, etwas Neues zu finden.“ Berlin bietet Freiheit, aber kaum langfristige Perspektiven.

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