Sie bezahlen zwielichtige Agenten, fälschen Dokumente, dann tauchen sie unter: das Geschäft mit indischen Studenten, die nach Europa wollen

Tausende indische Jugendliche wollen mit einem Studentenvisum nach Europa. Einblicke in ein Geschäft mit teuren Agenten, seltsamen Universitäten und Studenten, die nicht studieren wollen.

Andreas Babst, Jalandhar 9 min
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Jalandhar ist eine mittelgrosse Stadt in Punjab – viele Agenten sind hier angesiedelt.

Jalandhar ist eine mittelgrosse Stadt in Punjab – viele Agenten sind hier angesiedelt.

Hindustan Times / Getty

Bevor Vishal Walia anfing, Träume zu verkaufen, hatte er selber einen: Fast neun Jahre lang versuchte Walia nach Europa zu kommen. Der Traum endete endgültig, als sie ihn mit einem gekauften Visum in Belgien erwischten. Das war vor sechs Jahren.

Jetzt sitzt Walia, 31, in seinem Büro in Jalandhar, einer mittelgrossen Stadt im nordindischen Teilstaat Punjab. Über dem Eingang steht auf einem Schild: «Träume gross – wir sind hier, um den Traum noch grösser zu machen.» Es braucht ein vollmundiges Versprechen, um aufzufallen in dieser Stadt, die mit Versprechen tapeziert ist: «Studiere im Ausland», «Visaberatung», «Die Visa-Ingenieure». Walia schätzt, allein in Jalandhar seien über 2000 sogenannte Agenten aktiv, in ganz Punjab müssten es Tausende sein.

Sie alle versprechen das Gleiche: ein Visum. Für Kanada, Australien, den Schengenraum. Besonders gefragt sind Studentenvisa. Walia sagt, er könne junge Inder und Inderinnen überall hinschicken, alles eine Frage des Preises. Ein Studentenvisum soll das Eintrittsticket sein für ein besseres Leben im Westen. «Es kommt der Tag, an dem niemand mehr in Punjab lebt», sagt Walia – alle wollen weg.

20 000 Franken für ein Schweizer Studentenvisum

Ausländer bezahlen an vielen Universitäten in Europa ein Vielfaches der Studiengebühr, sie sind eine existenzielle Geldquelle für diese Unis. Aber nicht jede Universität ist so bekannt, dass sich ausländische Studenten von selbst bewerben. Also verlassen sich diese Universitäten auf Agenten. Sie sollen junge Menschen aus aller Welt akquirieren. Laut einer Umfrage wurden vor der Pandemie über 40 Prozent aller ausländischen Studenten in England von Agenten angeworben. Die Agenten erhalten eine Kommission.

«Meine Hauptsorge gilt dem Mangel an Transparenz», sagt Vincenzo Raimo. Er hat einst internationale Studenten für eine englische Universität rekrutiert, nun arbeitet er an einem Buch über Sorgfalt und Ethik in diesem Geschäft. «Agenten sagen nicht, wie hoch ihre Kommission ist, und Universitäten deklarieren nicht, mit welchen Agenten sie zusammenarbeiten», sagt Raimo. Es gibt also für die indischen Jugendlichen keine Möglichkeit, zu überprüfen, ob der Agent in Punjab seriös ist und ihn tatsächlich mit seiner Wunschuniversität vernetzt. «Das zweite Problem ist: Es gibt keine Regulierungen in diesem System», so Raimo. Und wie in jedem Markt ohne Regulierung gelte: Es gibt gute, schlechte und furchtbare Leute.

Walia ist in diesem System eine Art Subunternehmer. Er hat kaum direkte Kontakte zu Unis, aber er kennt andere Agenten, und diese wiederum sind mit Universitäten verknüpft. Das beliebteste Ziel von Walias Kunden ist Lettland, «weil es so wenig kostet», sagt er, nur 7500 Franken Gebühr. Das ist viel weniger als Deutschland (25 000 Franken) oder die Schweiz (20 000 Franken) – es ist der Preis dafür, dass Walia seine Kunden durch den Dschungel aus Visadokumenten und Beglaubigungen führt. Inklusive Kommission.

Walias Kunden sind nicht reich. Sie leben in den Bauerndörfern Punjabs, die ganze Familie kratzt das Geld zusammen, verkauft Land und hofft, dass sich das alles irgendwann lohnt. Viele dieser Jugendlichen bringen wenig mit, was sie für eine europäische Universität qualifiziert. Deshalb navigieren Agenten in Punjab nicht nur durch den Dschungel aus Dokumenten, sie fälschen diese auch, eröffnen und füllen Bankkonten für ihre Kunden, um Sicherheiten und Vermögen vorzutäuschen. Walia sagt nicht, dass er Dokumente fälscht. Er sagt «ein Profil erstellen».

Eine Universität in Lettland – ausländische Studenten studieren kaum zu Ende im EU-Land.

Eine Universität in Lettland – ausländische Studenten studieren kaum zu Ende im EU-Land.

Imago

Gefälschte Dokumente: «gängiges Problem»

Lovepreet, 23, hat Walia über 6000 Franken bezahlt, damit er ihn nach Lettland bringt. Er lebt in einer kleinen Stadt, rund eine Stunde entfernt von Jalandhar. Lovepreets Reise endete Anfang dieses Jahres bereits in der lettischen Botschaft in Delhi. Beim Grund für die Visumsverweigerung hat die Beamtin angekreuzt, die eingereichten Dokumente seien illegal beschafft oder gefälscht. Der Grund, nach Lettland einzureisen, sei nicht jener, der der Interviewte vorgebe.

Lovepreet spricht kaum Englisch. Er hat ein Notizheft vollgeschrieben mit möglichen Fragen und Antworten, der Agent Walia hat ihm geholfen, er hat die Fragen und Antworten für das Botschaftsinterview auswendig gelernt. Wenn man Lovepreet fragt, wieso er nach Lettland wolle, sagt er auf Englisch: «Lettland ist weltberühmt für seine Tannenbäume.»

Vergangenes Jahr bewarb sich eine Gruppe aus dem südindischen Kerala auf der Schweizer Botschaft um Studentenvisa. Alle hatten ein gefälschtes Zulassungsschreiben einer Schweizer Privatschule in Bern, ein Agent hatte es ihnen besorgt, fast 4000 Franken hatten sie bezahlt. Die Botschaft hat die Visumsanträge abgewiesen, die Studenten sind für zwei Jahre für die Einreise in die Schweiz gesperrt, sie haben den Agenten angezeigt. Die Schweizer Botschaft in Delhi schreibt, es sei ein «gängiges Problem», dass Studenten mit gefälschten oder manipulierten Dokumenten bei ihnen auftauchten.

Lovepreets Zulassungsschreiben für die Uni in Riga war echt gewesen. Er hat das Bewerbungsinterview aufgezeichnet, das Video dauert weniger als fünf Minuten. Der Rekrutierer in Lettland fragt nach Lovepreets Lieblingsfach, nach seinem Hobby. Lovepreets Englisch ist nur schwer zu verstehen, schon nach wenigen Sekunden müsste klar sein, dass er seine Antworten auswendig aufsagt. Der Rekrutierer nickt die ganze Zeit freundlich. Kurz nach dem Interview erhält Lovepreet einen Brief: Gratulation, er sei aufgenommen, er solle bitte 200 Euro Registrierungsgebühr überweisen, 1000 Euro Anzahlung und 3000 Euro Semestergebühr. Er hat das Geld zurückbekommen, nachdem sein Visum abgelehnt wurde.

Der Hochschulexperte Raimo sagt: «Die Universitätsführungen setzen Rekrutierungsziele, und es gibt viel Druck auf Rekrutierer, diese zu erreichen.» Mit der Pandemie kämen kaum noch chinesische Studenten, gerade englische Unis hätten Indien als boomenden Markt ausgemacht, um die nötigen Quoten zu schaffen.

Lovepreet will weiter versuchen, nach Europa zu kommen. Er hat keine Arbeit, und es gebe auch keine in Punjab, sagt er. Indiens Wirtschaft wächst zu langsam, um die Millionen neuer Arbeitskräfte aufzunehmen, die jedes Jahr auf den Markt drängen.

Aber es gibt auch eine andere Seite: Viele junge Punjabis haben eine Anspruchshaltung entwickelt. Sie rechnen damit, dass irgendwann irgendjemand Geld für sie zusammenkratzt und sie in den Westen schickt. Einige gehen illegal, sie reisen über Russland und Mexiko in die USA oder lassen sich von Belgien nach England schmuggeln. Eines der grössten Häuser in Lovepreets Nachbarschaft gehört einem Mann, der elf Jahre lang illegal in England gelebt und in einer Fabrik Eier verpackt hat. Jetzt ist er zurück und hat seine Tochter zum Studium nach Australien geschickt. «Heute gehen viele mit Studentenvisa», sagt Lovepreet. Auch jene, die eigentlich nur arbeiten wollen.

Lettland: das Tor zur EU für indische Studenten

Der Agent Walia sagt, kaum einer seiner Klienten in Lettland beende das Studium, «ich würde sagen, 70 oder 80 Prozent brechen ab und tauchen dann unter», sagt er. Lettland ist für sie das Tor zur EU. Laut Walia reisen sie von dort nach Portugal, dort sind die Hürden für eine vorübergehende Aufenthaltsbewilligung tief.

Zahlen des lettischen Amtes für Statistik belegen Walias Aussage: Inder sind die grösste Gruppe ausländischer Studenten im Land, 1702 waren im vergangenen Jahr an lettischen Universitäten eingeschrieben – die Zahl sank etwas wegen der Pandemie. Aber nur ein kleiner Teil der indischen Studenten macht einen Abschluss: 2021 waren es 437, in den Jahren davor noch weniger. Überhaupt scheinen nur wenige ausländische Studenten in Lettland zu Ende zu studieren.

Ausländische Studenten in Lettland

Nur ein kleiner Teil macht tatsächlich einen Abschluss
Internationale Studenten
Indische Studenten
Abschlüsse Internationale Studenten
Abschlüsse Indische Studenten

Lakhvinder, 24, lebt in Lettland. Er steht in der Küche seines Arbeitgebers, eines Sushi-Restaurants in Riga, als er den Videoanruf annimmt. Auch Lakhvinder stammt aus Punjab. Nach einem Semester habe er sein Studium abgebrochen. Während der Pandemie erlaubten die lettischen Behörden Bürgern aus Drittstaaten, die nicht heimreisen konnten, ihren Visumsstatus zu ändern. Lakhvinder hat jetzt eine Arbeitserlaubnis.

Er lebt in Riga noch immer im Studentenheim. Nachdem der Vermieter erfahren hatte, dass er Vollzeit arbeitet, erhöhte er die Miete. Lakhvinder teilt sich das Zimmer mit vier anderen Indern. Er zahlt jetzt 85 Euro im Monat, 1300 Euro verdient er im Sushi-Restaurant. «Es kommen immer mehr indische Studenten hierher», sagt er. Mittlerweile gebe es in Riga ein paar indische Restaurants. Aber Lettland gefällt Lakhvinder nicht besonders, überhaupt Europa, das sei nichts für ihn. Das Essen, zu viel Fleisch, die Kultur. Er versucht weiterzukommen, er will nach Kanada. Gerade bemüht er sich um ein Visum.

Laut dem Hochschulexperten Raimo ist für viele indische Studenten nicht die Qualität der Bildung entscheidend, sondern ob sie nach dem Studium im Land bleiben können. Es gibt eine Reihe privater Universitäten in ganz Europa, die viel Geld verlangen, aber wenig Qualität bieten. Es ist ein Milliardengeschäft, betrieben von Universitäten in der Schweiz, Deutschland, England.

Ein Essenslieferant in Riga – viele indische Studenten arbeiten in Europa als Kuriere oder in Restaurants.

Ein Essenslieferant in Riga – viele indische Studenten arbeiten in Europa als Kuriere oder in Restaurants.

Ints Kalnins / Reuters

Die internationalen Studenten der privaten Berlin School of Business and Innovation beklagten sich im Jahr 2019 in einem Brief über die mangelnde Qualität ihres Studiums. Laut der «Financial Times» ermahnte der Berliner Senat die Schule – sie ist noch immer aktiv.

Auch Jassa, 24, aus Punjab studiert in Berlin, an einer privaten Hochschule derselben Gruppe. Für wöchentlich 8 Stunden Präsenzunterricht (und 25,5 Stunden Online-Unterricht) bezahlt er 10 500 Euro im Jahr – im Vergleich mit englischen Universitäten ist das wenig. In der Zweizimmerwohnung wohnen sieben andere indische Studenten. Um über die Runden zu kommen, liefern viele von ihnen Essen aus beim Lieferdienst Wolt.

Jassa klingt genervt am Telefon. «In drei Jahren mache ich einen Bachelor, dann wechsle ich an eine öffentliche Universität», sagt er – so wird er Tausende Euro sparen können. Wird er dort nicht angenommen, macht er auch den zweijährigen Master an seiner Uni, nehmen würden sie ihn, «die wollen ja von unserem Geld profitieren».

Jassa und viele andere sind gefangen in einem System voller falscher Anreize. Für die Universitäten, die hohe Ausländerquoten verfolgen, um mehr Geld zu verdienen. Und für die Studenten, die glauben, angespornt von Erfolgsvideos auf Youtube, sie brauchten nur Geld und den richtigen Agenten, dann spielten Vorbildung, Fleiss und Sprache keine Rolle. Viele dieser indischen Studenten sind dann im Westen sehr einsam. Die indische Botschaft in Kanada hat im Februar einen Ratgeber herausgegeben, darin warnt sie vor kulturellen Unterschieden, vor dem kalten Wetter, vor der Einsamkeit. Der Ratgeber war eine Reaktion auf eine Häufung von Suiziden unter indischen Studenten – seit 2020 waren es acht.

Indischer Student: abgetaucht in Deutschland

Jaswinder, 27, sitzt im Unterhemd in seinem Zimmer in einer süddeutschen Stadt. Das Zimmer liegt über dem indischen Restaurant, wo er in der Küche arbeitet. «Natürlich vermisse ich mein Daheim. Ich bin schon vier Jahre weg», sagt er. Jaswinder ist in Europa abgetaucht.

Er reiste mit einem gekauften Touristenvisum von Punjab nach Griechenland und weiter nach Portugal und erhielt dort eine temporäre Aufenthaltsbewilligung, die ihm ermöglichte, im Schengenraum zu reisen. Nun arbeitet er illegal in Deutschland. Er spricht weder Englisch noch Deutsch, er muss sich auf Netzwerke anderer Punjabis verlassen. Er verdient 1000 Euro, manchmal 1100 Euro im Monat, weniger als der Mindestlohn. Einmal pro Tag telefoniert er mit seinem Vater.

Wenn er kann, schickt er monatlich 200 bis 300 Euro nach Punjab. Sie sind für den kleinen Bruder, die Familie spart für ein zweites Visum. «Ich will, dass auch mein Bruder kommen kann», sagt Jaswinder.

Der Agent Walia ist heute froh, dass es nicht geklappt hat mit seinem eigenen Traum von Europa. «Als ich zurück nach Indien kam, war ich erst depressiv», sagt er. Jetzt ist er zufrieden mit seinem Leben, er zeigt auf seinem Handy das Foto seiner kleinen Tochter, im Vorzimmer arbeitet seine Frau, hinter dem Schreibtisch steht die Mitglieder-Urkunde des lokalen Lions Club. Alle wollen weg, und er bleibt hier. Gerade hat er ein neues, grösseres Büro bezogen.

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